II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 105

1883 September 9

Brief1 des Geheimen Oberregierungsrates Theodor Lohmann an den Pastor Dr. Ernst Wyneken

Ausfertigung, Teildruck2

[Sofern Bismarck sich nicht “in ungewohnter Weise” umstimmen läßt, wird auch die nächste Reichstagssession kein verabschiedetes Unfallversicherungsgesetz bringen]

[...] Daß ich die freundliche Aufnahme, welche wir bei Euch gefunden, und die schönen Tage, welche Ihr uns bereitet, mit so langem Schweigen vergolten habe, hat seinen Grund teilweise darin, daß ich gleich nach meiner Ankunft nach zwei Seiten über nicht erhebliche aber unaufschiebliche Angelegenheiten korrespondieren mußte, teils darin, daß ich diesmal noch mehr wie auch in anderen Jahren mich körperlich und geistig wieder akklimatisieren mußte. Ganz bin ich damit noch immer nicht zurecht, und die geschäftliche Atmosphäre ist auch wenig geeignet, diesen Prozeß zu befördern. Bis jetzt wissen wir noch immer nicht, was eigentlich für die nächste Reichstagssession werden soll; nur so viel weiß ich, daß, wenn der Fürst nicht in ungewohnter Weise sich umstimmen läßt, die nächste Reichstagssession pro nihilo3 sein wird. Und leider ist niemand da, der auch nur ernstlich den Versuch wagte, ihn umzustimmen; von Boetticher wird voraussichtlich, wie bisher, Anstand nehmen, ihm auch nur dasjenige vorzulegen, was ich zur Klarstellung der Undurchführbarkeit des letzten Entwurfs ausgearbeitet habe4, noch weniger ihm offen sagen, daß er meine Auseinandersetzungen für zutreffend halte.5 Übrigens werde ich doch dem Minister6, wenn ich soweit an ihn kommen kann, die Sache noch mal ernstlich ins Gewissen7 schieben. Vielleicht bietet sich mir dazu eine gute Gelegenheit, da ich in 8 Tagen wieder für eine Woche mit ihm auf Reisen gehe, diesmal nach Schlesien, namentlich Oberschlesien, wo ich Gelegenheit finden werde, mich mal bei den dortigen Magnaten umzusehen, da wir wohl meist bei solchen logieren werden.8 [...]

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Registerinformationen

Personen

  • Bödiker, Tonio (1843─1907) Geh. Regierungsrat im Reichsamt des Innern
  • 1BArchP 90 Lo 2 Nr. 2, fol. 173─174 Rs. »
  • 2Die ausgelassenen Abschnitte betreffen Familien- und Kirchenangelegenheiten. »
  • 3Geflügeltes Wort seit dem gleichnamigen Titel der gegen Bismarcks Anklagen gerichteten Verteidigungsschrift Harry Graf von Arnims (Zürich 1875). »
  • 4Gemeint könnte damit Nr. 99 sein. »
  • 5Inwieweit das zutrifft, ist zweifelhaft; eine inhaltlich fundierte “persönliche Meinung” v. Boettichers ist nicht nachweisbar; vgl. auch Nr. 95─97. »
  • 6Der Staatssekretär des Innern war preußischer Staatsminister. »
  • 7Dieser hier angedeutete Rückgriff auf ein innerlich verpflichtendes Bewußtsein vor einer höheren Instanz (Gott?) ist Indiz für den Stellenwert der strittigen Fragen für Lohmann; vgl. Nr. 113, auch Bosse spricht in diesem Zusammenhang von “Gewissensbedenken” Lohmanns; vgl. auch Nr. 71 Anm. 6. »
  • 8Diese gemeinsame Dienstreise vom 16.-22.9.1883 begann in Niederschlesien (Kotzenau, Breslau, Hirschberg) und endete im Südosten Oberschlesiens. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 105, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.02.01.0105

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