II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 96

1883 Juni 25

Brief1 des Geheimen Oberregierungsrates Theodor Lohmann an den Pastor Dr. Ernst Wyneken

Ausfertigung, Teildruck2

[Von Boetticher hat Bismarck mündlich über Lohmanns neuen Plan unterrichtet, Bismarck hat demgegenüber angeordnet, daß das Umlageverfahren beibehalten werden soll]

Ich muß wohl endlich Deiner Bitte um “baldige Antwort” nachkommen, obwohl ich gar nicht zum Schreiben aufgelegt bin. Es herrscht hier, besonders in meinen Dienstangelegenheiten ein so schauderhafter Zustand, daß man am liebsten gar nichts mehr damit zu tun hätte. Nachdem wir mit unserem Unfallsgesetze, wie ich ja vorausgesagt hatte, in der Kommission so gründlich abgefahren sind, daß wir für die Grundlagen desselben auch noch nicht mal eine Stimme bekommen haben, hatte ich dem Minister einen neuen Plan vorgetragen und auch seine Zustimmung dafür erhalten, daß er dem Fürsten vorgeschlagen werden sollte.3 Dummerweise hat er, ehe er meine Ausarbeitung der Grundzüge4 in Händen hatte, dem Fürsten mündlich darüber Mitteilung gemacht und damit den glänzenden Erfolg erzielt, daß der letztere einen Punkt, der für die Durchführbarkeit entscheidend ist, ohne weiteres verworfen und dabei erklärt hat, daß das “Umlageverfahren”, welches mit meinem Plane unvereinbar, unter allen Umständen beibehalten werden solle.5

Damit ist nun nach meiner festen Überzeugung die Möglichkeit, zu einer durchführbaren Organisation zu kommen, überhaupt ausgeschlossen; und da Er6 jetzt so [ Druckseite 322 ] eigensinnig ist, daß er auf keinen Menschen mehr hört, so ist überhaupt nichts mehr zu machen. Ich bin ziemlich neugierig, was der Minister, den ich noch nicht gesprochen, heute sagen wird, wenn ich ihm erkläre, daß ich nun überhaupt keinen Vorschlag mehr zu machen wisse.7 Schließlich werde ich hier doch wohl noch beseitigt werden; denn allen Unsinn in gehorsamstem Schweigen mitzumachen, dazu habe ich nicht das Zeug. [...]

Registerinformationen

Personen

  • Bosse, Robert (1832─1901) Direktor der II. Abteilung für wirtschaftliche Angelegenheiten im Reichsamt des Innern
  • Hertling, Prof. Dr. Georg Freiherr von (1843─1919) Philosoph, MdR (Zentrum)
  • Lerchenfeld-Koefering, Hugo Graf von und zu (1843─1925) bayer. Gesandter in Berlin
  • Moufang, Dr. Christoph (1817─1890) Domkapitular in Mainz, MdR (Zentrum)
  • 1BArchP 90 Lo 2 Nr. 2, fol. 169─170 Rs. »
  • 2Die ausgelassenen Abschnitte betreffen u.a. die Mandatsniederlegung des nationalliberalen Parteiführers Rudolf v. Bennigsen. »
  • 3Vgl. Nr. 95. »
  • 4Gemeint sind wohl zwei Ausarbeitungen vom 23.6. (Grundzüge der Organisation mit Begründung, BArchP 90 Lo 2 Nr. 16, fol. 7─14). Diese “Grundzüge” sind dann wörtlich Inhalt der Denkschrift vom 27.6.1883 geworden. »
  • 5Über Datum und Verlauf dieses Vortrags gibt es keine gesicherte Überlieferung, die Direktiven Bismarcks sind aber (unvollständig und/oder ungenau) überliefert in Lohmanns Denkschriften (vgl. Nr. 98 und 101). Danach waren die Kernelemente: Umlageverfahren und Genossenschaft von Unternehmern gleicher Betriebe die soweit möglich zwangsweise durchzuführende Regel (vgl. Nr. 99 Anm. 1); inwieweit Bismarck dabei noch auf der gleichen Gefahrenklasse als Maßstab der Gleichartigkeit bestand (wie vor allem von Bödiker entwickelt) ist zweifelhaft, jedenfalls setzte Magdeburg diese Direktive so um, daß auf die Branchenzugehörigkeit der einzelnen Industriebetriebe bzw. -unternehmer, also ähnliche Produkte und Produktionsverfahren bzw. ökonomische Interessen als Kriterium der Gleichheit und damit zur Konstituierung von Berufsgenossenschaften abgestellt wurde. Angesichts der Reichsebene der Berufsgenossenschaften spielte die geographischterritoriale Zugehörigkeit bzw. die politische Verwaltungseinteilung keine Rolle mehr bei der Organisationsbildung. Erst am 27.9.1884 ergingen dann wieder Direktiven Bismarcks zur Unfallversicherung (vgl. Nr. 111). »
  • 6Mit diesem an sich “sehr hohen Personen”, i.d.R. Angehörigen regierender Häuser, vorbehaltenen Gebrauch der Großschreibung ist Bismarck gemeint. »
  • 7Karl Heinrich v. Boetticher dürfte daraufhin, des kritisch-renitenten (zunehmend obstruktiven?) Eigensinns Lohmanns überdrüssig, kurzerhand (vgl. Nr. 41 Anm. 1) den Referenten Eduard Magdeburg mit der Anfertigung einer Denkschrift beauftragt haben, die Bismarcks Vorstellungen Rechnung trug. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 96, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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