II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 86

1883 Mai 28

Bericht1 über die zehnte Sitzung der VIII. Reichstagskommission

Druck

[Beratung und Beschlußfassung über die §§ 5 und 6 der zweiten Unfallversicherungsvorlage]

In der Sitzung der Reichstagskommission zur Vorberatung des Gesetzentwurfs vom 29. [recte: 28] v. M. wurde der wichtige § 5, welcher die sogenannte Karenzzeit enthält, wiederum entsprechend dem in der informatorischen Beratung zustandegekommenen Kompromiß der konservativen und ultramontanen Kommissionsmitglieder angenommen. Nach der Regierungsvorlage soll die Fürsorge für die Unfallbeschädigten während der ersten 13 Wochen ausschließlich durch die Krankenkassen getragen werden, und erst nach Ablauf dieser Zeit die Leistung der Unfallversicherung eintreten. Der Kommissionsbeschluß beschränkt diese Zeit von 13 auf 4 Wochen. Vom Beginn der 5. Woche an soll der Arbeiter die volle Versicherungsrente erhalten. Die soll aber bis zur vollendeten 13. Woche im Betrage des Krankengeldes von der Krankenkasse mitgetragen werden, so daß für diese Zeit von der Unfallversicherung außer den Kosten des Heilverfahrens nur der Überschuß der Unfallrente über das Krankengeld zu leisten sein würde. Auf Seiten der Mitglieder der Fortschrittspartei und der liberalen Vereinigung ward eine Geneigtheit zur Heranziehung der Krankenkassen überhaupt nicht kundgegeben. Die Nationalliberalen erkannten in dieser Heranziehung für die kleinen, mit einer schnell vorübergehenden Erwerbsunfähigkeit verbundenen Unfälle an sich eine sehr nützliche Maßregel, stellten sich aber, teils aus rechtlichen, teils aus Zweckmäßigkeitsgründen, auf den Standpunkt, daß die gesamte Entschädigung der Unfallverletzten von den Arbeitgebern zu tragen sei, und wollen deshalb den Unternehmern versicherungspflichtiger Betriebe noch einen besonderen Beitrag zu den Krankenkassen auferlegt wissen.

Über der Behandlung des § 5 waltet ein merkwürdiges Geschick. In der informatorischen Beratung wäre er ohne das Fehlen eines erkrankten Mitgliedes mit Stimmengleichheit abgelehnt worden.2 Jetzt, in der ersten ordentlichen Beratung schienen die Konservativen geneigt, den Beitrag der Krankenkasse von der 5. bis zur vollendeten 13. Woche fallen zu lassen. Aber durch ein Mißverständnis unterblieb die ausdrücklich [von Abg. Buhl] beantragte getrennte Abstimmung, und so wurde der Beschluß der Vorberatung einfach wiederholt. Es wird nun abzuwarten sein, ob die zweite Lesung ein anderes Ergebnis herbeiführen wird. Auch der § 6 (Schadenersatz im Falle der Tötung) wurde angenommen. Vor der Abstimmung machte Abgeordneter Dr. Gutfleisch darauf aufmerksam, daß nur fünf liberale Mitglieder der Kommission anwesend seien (die Mitglieder der Fortschrittspartei fehlten anläßlich der Totenfeier für Schulze-Delitzsch3) und stellte anheim, wichtige [ Druckseite 295 ] Abstimmungen für jetzt zu unterlassen, da das zufällige Resultat derselben für das Plenum kein Interesse haben könne. Der Vorsitzende hielt diesen Einwand für unbegründet, da ohnehin noch eine zweite Lesung stattfinde. [...]

Registerinformationen

Personen

  • Bödiker, Tonio (1843─1907) Geh. Regierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Boettcher, Dr. Friedrich (1842─1922) Schriftsteller, MdR (nationalliberal)
  • Bosse, Robert (1832─1901) Direktor der II. Abteilung für wirtschaftliche Angelegenheiten im Reichsamt des Innern
  • Franckenstein, Georg Arbogast Freiherr von und zu (1825─1890) Jurist und Gutsbesitzer, MdR (Zentrum), Vizepräsident des Reichstags
  • Greve, Dr. Heinrich Eduard (1846─1892) prakt. Arzt, MdR (Fortschritt)
  • Hirsch, Dr. Max (1832─1905) Jurist und Gewerkvereinsführer, MdR (Fortschritt)
  • Kulmiz, Dr. Paul von (1836─1895) Rittergutsbesitzer und Industrieller, MdR (Deutsche Reichspartei)
  • Löwe, Ludwig (1837─1886) Fabrikbesitzer, MdR (Fortschritt)
  • Lohmann, Theodor (1831─1905) Geheimer Oberregierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Lohren, Arnold (1836─1901) Rentier, ehem. Fabrikant, MdR (Deutsche Reichspartei)
  • Magdeburg, Eduard (1844─1932) Geh. Regierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Meyer, Dr. Geh. Oberregierungsrat im Reichsjustizamt, ständ. Mitglied des Reichspatentamts
  • Moufang, Dr. Christoph (1817─1890) Domkapitular in Mainz, MdR (Zentrum)
  • Schönborn-Wiesentheid, Friedrich Graf von (1847─1913) Gutsbesitzer, MdR (Zentrum)
  • Wichmann, Rudolf (1826─1900) Rittergutsbesitzer, MdR (konservativ)
  • Woedtke, Erich von (1847─1902) Geh. Regierungsrat im Reichsamt des Innern
  • 1ZfV, 7. Jg. 1883, S. 279 f., Sitzungsprotokoll: BArchP 01.01 Nr. 3080, fol. 228─229 Rs. »
  • 2Vgl. Nr. 81. »
  • 3Dr. Hermann Schulze-Delitzsch (1808─1883), Kreisrichter a.D., seit 1867 MdR (Fortschritt), war am 29.4. verstorben. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 86, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.02.01.0086

Nachnutzung: Digitale Quellensammlung und Forschungsdaten stehen unter einer Creative Commons Attribution 4.0 International (CC-BY 4.0) Lizenz. Weiterverwendung unter Namensnennung und Angabe des Permalinks.