II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 82

1883 Mai 7

Bericht1 über die siebte Sitzung der VIII. Reichstagskommission

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[Informatorische Beratung über die §§ 6 und 10 der zweiten Unfallversicherungsvorlage]

In ihrer Sitzung vom 7. d. M. trat die Reichstagskommission in Fortsetzung ihrer Beratungen zunächst in die vorläufige Beratung des § 6 ein, welcher von dem Schadenersatz im Falle der Tötung handelt. Abg. Lohren hielt den zwanzigfachen Betrag des verdienten Tagelohns als Beerdigungskosten für zu hoch und wollte nur das Zwanzigfache des ortsüblichen Tagelohns, gleich der Mindestleistung der Ortskrankenkassen, zulassen. Abg. Dr. Hirsch hielt im Gegenteil sowohl die Beerdigungskosten als auch die Renten für die Hinterbliebenen zu niedrig; 10 p[ro] C[en]t des Arbeitsverdienstes für ein Kind mache durchschnittlich kaum 15 Pf. pro Tag, womit Unterhalt und Erziehung nicht zu beschaffen seien, selbst die Armenunterstützung sei höher; das Schlimmste aber sei der Höchstbetrag von 50 % für Witwen und Waisen zusammen, ohne Rücksicht auf die Zahl der letzteren, wodurch die Hinterbliebenen für den Verlust des Vaters auch noch mit Elend bestraft würden. Er beantragte die Beerdigungskosten auf das 30fache des verdienten Tagelohns, die Rente der Witwe von 20 auf 25, jeder Waise von 10 auf 15 und den Gesamthöchstbetrag von 50 auf 66 2/3 % zu erhöhen. Die Abgg. v. Hertling und Dr. Lieber2 sympathisierten mit der Tendenz der Hirschschen Anträge, hielten die geforderten Sätze aber für zu hoch; ersterer beantragte die Beerdigungskosten auf mindestens 60 M, letzterer den Gesamthöchstbetrag der Renten auf 60 % zu normieren. Bei der Abstimmung blieben schließlich die Anträge Hirsch in der Minorität, die Anträge v. Hertling und Lieber wurden angenommen und mit denselben § 6.3

§ 10 handelt von den Gefahrenklassen. Abg. v. Schirmeister (Sezessionist)4 erklärte sich in eingehender Rede, besonders aufgrund seiner langjährigen Erfahrungen bei der Feuerversicherung, gegen die Abmessung der Beiträge nach der durchschnittlichen Unfallsgefahr der Betriebszweige und Betriebsarten, da die Häufigkeit der Unfälle weit mehr von Nebenumständen, besonders solchen individueller Natur, abhänge; so gehören die Schneidemühlen als Betriebszweig zur höchsten Gefahrenklasse, die Schneidemühlen z. B. des Grafen von Stolberg zu Wernigerode5 aber ständen infolge der vorzüglichen Schutzvorrichtungen einer gewöhnlichen [ Druckseite 288 ] Tischlerei gleich. Die Gefahrenklassen der Vorlage seien die legalisierte Ungerechtigkeit. In ähnlichem Sinne sprachen sich die Abgg. Dr. Buhl und Löwe aus. Beide hoben hervor, daß die Einrichtung von Durchschnittsgefahrenklassen dem Hauptzweck des Gesetzes, der Verhütung der Betriebsunfälle, durchaus widersprechen, denn hierdurch werde der gewissenhafte Unternehmer gezwungen, für den gewissenlosen ständig mitzuzahlen, und damit werde der Hauptsporn für Schutzvorrichtungen beseitigt. Dies mache aber das ganze System der Zwangsversicherung unannehmbar, weil dieses die individuelle Abmessung der Prämien, wie solche bei den freien Gesellschaften und Genossenschaften möglich und üblich, nicht gestatten könne. Geh. Oberregierungsrat Lohmann verteidigte die Vorlage; der Versicherungszwang mache ein System öffentlich rechtlicher Organisationen notwendig. Ohne Gefahrenklassen könnten auch freie Versicherungsanstalten nicht arbeiten, während die Feststellung von Maximaltarifen für die letzteren die Betriebsunternehmer gegen Druck und Ausbeutung nicht schützen würde.

Registerinformationen

Personen

  • Buhl, Dr. Franz Armand (1837─1896) Gutsbesitzer, MdR (nationalliberal)
  • Löwe, Ludwig (1837─1886) Fabrikbesitzer, MdR (Fortschritt)
  • Lohmann, Theodor (1831─1905) Geheimer Oberregierungsrat im Reichsamt des Innern
  • 1ZfV, 7. Jg. 1883, S. 242, Sitzungsprotokoll: BArchP 01.01 Nr. 3080, fol. 204─209 Rs. »
  • 2Dr. Ernst Philipp Lieber (1838─1902), seit 1871 MdR (Zentrum); vgl. Nr. 21 Anm. 8. »
  • 3Vgl. BArchP 15.01 Nr. 384, fol. 108. »
  • 4Heinrich v. Schirmeister (1817─1892), Landrat a.D., seit 1881 MdR (Liberale Vereinigung). »
  • 5Otto Graf zu Stolberg-Wernigerode (1837─1896), ehem. Vizekanzler und Stellvertreter Bismarcks (1878─1881), besaß 10 000 ha Morgen Wald im Harz (wozu auch der Brocken gehörte) und Sägemühlen in Wernigerode und Ilsenburg. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 82, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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