II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 80

1883 Mai 4

Bericht1 über die fünfte Sitzung der VIII. Reichstagskommission

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[Informatorische Beratung und Beschlußfassung über die §§ 5 und 7 der zweiten Unfallversicherungsvorlage: Vorteile und Nachteile der Karenzzeit bzw. Kostentragung der Unfallfolgen durch die Krankenkassen für die ersten 13 Wochen]

Die Kommission nahm ihre Beratungen am 4. [Mai] wieder auf, konstatierte zunächst das Einverständnis darüber, daß der vom Reichstage der Kommission

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überwiesene Antrag Rickert wegen schleuniger Beratung der grundlegenden Bestimmungen des Gesetzes durch das von der Kommission bereits eingeschlagene Verfahren einstweilen als erledigt zu betrachten sei, und setzte dann die Diskussion des § 5 fort, wiederum, ohne dieselbe zum Abschluß zu bringen. Es handelt sich dabei bekanntlich um die prinzipielle Streitfrage, ob dem Verletzten die Entschädigungsrente sofort vom Tage des Unfalls an oder erst nach Ablauf einer sogenannten Karenzzeit gewährt, und ob während dieser Karenzzeit die Unterstützung des Verletzten von der Krankenkasse, und zwar ausschließlich von dieser getragen werden soll. Die Regierungsvorlage überträgt die Fürsorge für sämtliche Betriebsunfälle während der ersten 13 Wochen nach Eintritt des Unfalls auf die Krankenversicherung; erst nach Ablauf dieser Zeit läßt sie die Unfallversicherung in Wirksamkeit treten. Nach dem vorhandenen statistischen Material würde auf diese Weise die Entschädigung für etwa 95 Prozent aller Unfälle ausschließlich von den Krankenkassen abgewickelt und auch endgültig getragen werden. Für dies System hat sich in der Kommission nur eine einzige Stimme ausgesprochen. Dagegen liegt eine Reihe mehr oder weniger von derselben abweichender Abänderungsanträge vor. Am nächsten kommt ihm ein Antrag v. Maltzahn2, welcher die Unfälle während der ersten vier Wochen ausschließlich den Krankenkassen zuweist, von da ab freilich dem Verletzten die volle gesetzliche Unfallrente gewährt, dieselbe jedoch bis zur vollendeten 13. Woche der Unfallversicherung nur soweit zur Last legt, als sie den Betrag des von der Krankenkasse zu gewährenden Krankengeldes übersteigt. Die Krankenkasse würde also für sämtliche Unfallbeschädigte während der ersten 13 Wochen das vorgeschriebene Krankengeld aus ihren Mitteln zu leisten haben; nur die Kosten des Heilverfahrens sollen ihr bereits nach Ablauf der ersten vier Wochen von der Unfallversicherung abgenommen werden. Von diesem Maltzahnschen Antrage unterscheidet sich ein Antrag von Hertling3 nur dadurch, daß er die Kosten des Heilverfahrens von Anfang an der Unfallversicherung zuweist. Eine besondere Frage ist noch die, was in den ersten vier Wochen aus denjenigen Verletzten werden soll, welche in einer Krankenkasse nicht versichert sind. Abg. Hertling trifft für diese gar keine Fürsorge, während Abg. Maltzahn ihnen vom Eintritt des Unfalls an den vollen Schadenersatz gewähren will. Eine Entschädigung der freien Hilfskassen seitens des Arbeitgebers für die Verpflegung eines Unfallverletzten nehmen beide Anträge nicht in Aussicht. Ein Antrag Lohren will die Unfälle während der ersten vier Wochen den Krankenkassen zuweisen, von da ab aber die Unfallversicherung eintreten lassen. War der Verletzte zur Zeit des Unfalls nicht in einer Krankenkasse versichert, so soll der Arbeitgeber die Kosten des Heilverfahrens für die ersten vier Wochen und das innerhalb dieser Zeit zu gewährende Krankengeld zu tragen haben. Auch ein Antrag Buhl will die Unfälle während der ersten vier Wochen den Krankenkassen zuweisen, jedoch den Verletzten statt des Krankengeldes vom Tage des Unfalls an den vollen gesetzlichen Schadenersatz gewähren. Als Äquivalent für diese Leistungen verlangt er, daß die Unternehmer unfallversicherungspflichtiger [ Druckseite 285 ] Betriebe zu einem höheren Krankenkassenbeitrage als dem in § 47 des Krankenversicherungsgesetzes vorgeschriebenen Drittel herangezogen werden. Den gegen Krankheit nicht versicherten, oder freien Hilfskassen angehörenden Verletzten sollen vom Arbeitgeber während der ersten vier Wochen die Kosten des Heilverfahrens und die Rente direkt vergütet werden. Endlich beantragten die sezessionistischen und fortschrittlichen Mitglieder der Kommission, die Krankenversicherung bei den Unfällen ganz aus dem Spiele und sofort vom Tage des Unfalls an die Verpflichtung der Unfallversicherung eintreten zu lassen. Als Kernpunkt der Debatte tauchte immer von Neuem wieder die Frage auf, wer eigentlich für die Folgen der Betriebsunfälle aufzukommen habe. Daß diese Frage juristisch nicht generell zu entscheiden, wurde allgemein zugegeben. Sobald man sich aber einmal von dem prinzipiell-rechtlichen mehr oder weniger auf den Zweckmäßigkeitsstandpunkt begab, gingen die Ansichten weit auseinander.

Abg. Dr. Hirsch richtete behufs notwendiger Information an die Regierungsvertreter die Anfragen: 1. Welche Grundlagen sind für die bereits zur nächsten Session angekündigten Gesetzentwürfe, betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung der Arbeiter, von der Regierung festgestellt, und sollen die Arbeiter hierzu Beiträge aufbringen, evtl. wie hohe? 2. Beharren die verbündeten Regierungen auf dem Reichszuschuß zur Unfallversicherung? Reichsamtsdirektor Bosse antwortete ad 1: Die Vorbereitungen für die Invaliditäts- und Altersversicherungsentwürfe seien noch nicht so weit gediehen, daß die verbündeten Regierungen über den Plan derselben, insbesondere auch über die Frage der Beitragsleistung seitens der Arbeiter, hätten schlüssig werden können. Ad. 2 könnten die Regierungskommissare über die definitive Stellung des Bundesrats zu der Frage des Reichszuschusses noch keine Erklärung abgeben; dieselben seien zunächst an die Vorlage gebunden. Abg. Freiherr v. Maltzahn befürwortete im wesentlichen den Antrag v. Hertling als eine Mittellinie der Verständigung, stellte jedoch sein vorerwähntes Amendement dazu. Abg. Dr. Buhl erklärte sich gegen die Anträge von Hertling-Maltzahn, besonders wegen der zu geringen Entschädigung der ersten vier Wochen und der Benachteiligung der freien Hilfskassen; die ganze Ersparnis für die Unternehmer beziffere sich auf etwa 1 1/2 Millionen Mark jährlich. Geh. Oberregierungsrat Lohmann suchte nachzuweisen, daß die Arbeitgeberbeiträge zu den Krankenkassen in der Hauptsache nicht als Kompensation für die Unfallentschädigung der ersten 13 Wochen von der Regierung beantragt sind.4 Hierüber wie über die Belastung der Arbeiterkrankenkassen, die Verschuldung der Arbeiter und anderes folgte eine lebhafte Diskussion. Sämtliche Redner der Linken5 erklären, daß sie an dem Grundsatze festhalten, [ Druckseite 286 ] daß die Arbeiter weder direkt noch indirekt Beiträge zur Unfallversicherung zahlen sollen, während Frhr. v. Hertling eine Belastung der Arbeiterkrankenkassen für die ersten 13 Wochen gerecht und zweckmäßig fand und evtl. dem Unteramendement v. Maltzahn zustimmte; die freien Hilfskassen würden dadurch allerdings benachteiligt, aber das beruhe auf dem freien Willen der Arbeiter.

Registerinformationen

Personen

  • Boettcher, Dr. Friedrich (1842─1922) Schriftsteller, MdR (nationalliberal)
  • Bosse, Robert (1832─1901) Direktor der II. Abteilung für wirtschaftliche Angelegenheiten im Reichsamt des Innern
  • Ebert, Karl (1838─1889) Bergwerkbesitzer, MdR (konservativ)
  • Gutfleisch, Dr. Egidi (1844─1914) Rechtsanwalt, MdR (Liberale Vereinigung)
  • Hirsch, Dr. Max (1832─1905) Jurist und Gewerkvereinsführer, MdR (Fortschritt)
  • Langerhans, Dr. Paul (1820─1909) Arzt, MdR (Fortschritt)
  • Lohmann, Theodor (1831─1905) Geheimer Oberregierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Lohren, Arnold (1836─1901) Rentier, ehem. Fabrikant, MdR (Deutsche Reichspartei)
  • 1ZfV, 7. Jg. 1883, S. 221, Sitzungsprotokoll: BArchP 01.01 Nr. 3080, fol. 183─186 Rs. »
  • 2Der Antrag Maltzahns (Abänderungsantrag Nr. 8) ist überliefert: BArchP 01.01 Nr. 3080, fol. 200, und 15.01 Nr. 384, fol. 106. »
  • 3Abänderungsantrag Nr. 6; dieser ist überliefert: BArchP 01.01 Nr. 3080, fol. 181, und 15.01 Nr. 384, fol. 104. »
  • 4Im SP ist vermerkt: Herr Geh. R. Lohmann glaubt, aus den Ausführungen der Vorredner entnehmen zu sollen, daß den verbündeten Regierungen der Vorwurf gemacht werde, sie hätten aus Furcht vor der Agitation der Arbeitgeber die Lasten für dieselben nicht genügend hoch normiert. Er glaube, daß von der anderen Seite eine zu große Furcht vor der Agitation der Arbeitnehmer vorwalte. Bisher hätten die bestehenden Krankenkassen alle Entschädigungen bei Unfällen getragen, ohne in ihrem Bestande erschüttert zu werden. Auch die Behauptung, daß bei der Karenzzeit von 13 Wochen die Arbeitnehmer die Entschädigungen ausschließlich zu tragen hätten, sei nicht zutreffend, da bekanntlich die Arbeitgeber zu den Krankenkassen 1/3 des Betrages zu leisten hätten. Auch seien die Beiträge der Arbeiter zu den Krankenkassen für diese nicht lästig. »
  • 5Gemeint sind hier die der liberalen Fraktionen. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 80, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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