II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 78

1883 April 17

Bericht1 des stellv. bayerischen Bundesratsbevollmächtigten Joseph Herrmann2 an das bayerische Ministerium des Innern

Abschrift

[Beratung in der zweiten Sitzung der VIII. Reichstagskommission]

Gestern wurden die Beratungen über die Unfallversicherungsvorlage in der Kommission begonnen. Die Beratung der §§ 1─6 wurde einstweilen ausgesetzt; man begann mit § 7, der von der Aufbringung der Beiträge handelt und zugleich das Prinzip der Organisation enthält. Man kam über allgemeine Erörterungen nicht hinaus und gelangte in der fünfstündigen Sitzung auch zu keiner Abstimmung. Folgende Hauptgesichtspunkte traten in der Diskussion hervor:

1. Der Reichszuschuß fand auf keiner Seite Anklang, auch nicht bei den Konservativen, welche hervorhoben, daß das Umlageverfahren gegenüber dem ersten Entwurfe, welcher Deckungskapitalien erforderte, den Reichszuschuß jedenfalls für die erste Zeit der Wirksamkeit des Gesetzes entbehrlich erscheinen lasse.

2. Die Liberalen, einschließlich Dr. Buhl, kamen wieder auf ihren vorjährigen Gesetzentwurf mit Privatversicherungsgesellschaften und gleichzeitigem Versicherungszwang zurück; man dürfe nicht die Privatgesellschaften, die jetzt schon die Versicherung für fast 1 Million Arbeiter in zufriedenstellender Weise gewähren, zerstören, um eine völlig neue Organisation an die Stelle zu setzen, von der man nicht wisse, ob sie sich bewähren werde. Sowohl das Zentrum (Frhr. von Hertling, [ Druckseite 281 ] Moufang) als auch die Konservativen traten entschieden gegen diesen Vorschlag auf.

3. Beachtenswert erscheint dagegen der Gedanke, den Dr. Buhl unter Zustimmung der Liberalen anregte, daß den Krankenkassen für die aus Betriebsunfällen entstandenen Erkrankungen aus der Unfallversicherung Entschädigung gewährt werden müsse. Diesem Gedanken sei der ursprüngliche Entwurf für Krankenversicherung dadurch gerecht geworden, daß er in § 47 den Unternehmern der unter die Unfallversicherung fallenden Betriebe ein Drittel der Beiträge zur Krankenversicherung überbürdete. Diese Bedeutung eines Ersatzes für die Haftpflicht des Unternehmers aber habe der Drittelbeitrag verloren, nachdem die Kommission denselben sämtlichen Arbeitgebern auch in nicht haftpflichtigen Betrieben auferlegt habe.3 Würde nun nicht in anderer Weise den Krankenkassen Schadloshaltung für die aus Betriebsunfällen herrührenden Erkrankungen gewährt, so wäre die Haftpflicht für Betriebsunfälle, deren Folgen nicht über 13 Wochen dauern, de facto beseitigt und den Krankenkassen definitiv überbürdet, was eine Verschlechterung des bisherigen gesetzlichen Zustandes sei. Regierungsseitig suchte man die Bedeutung dieser Argumente dadurch abzuschwächen, daß die aus Betriebsunfällen herrührenden Erkrankungen durchschnittlich nur 1/7 sämtlicher Erkrankungen ausmachten.4 Dagegen wurde jedoch mit Recht eingewendet, daß für die einzelne Krankenkasse oder Gemeinde nicht der Durchschnitt in Betracht komme, für dieselbe vielmehr durch Betriebsunfälle eine ganz außerordentliche Belastung entstehen könne. [...]

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Registerinformationen

Personen

  • Bismarck, Wilhelm Graf von (1852─1901) Regierungsrat in der Reichskanzlei
  • Bödiker, Tonio (1843─1907) Geh. Regierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Eberty, Eduard Gustav (1840─1894) Stadtsyndikus in Berlin, MdR (Liberale Vereinigung)
  • Gutfleisch, Dr. Egidi (1844─1914) Rechtsanwalt, MdR (Liberale Vereinigung)
  • Hertling, Prof. Dr. Georg Freiherr von (1843─1919) Philosoph, MdR (Zentrum)
  • Löwe, Ludwig (1837─1886) Fabrikbesitzer, MdR (Fortschritt)
  • Lohmann, Theodor (1831─1905) Geheimer Oberregierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Moufang, Dr. Christoph (1817─1890) Domkapitular in Mainz, MdR (Zentrum)
  • Paasche, Prof. Dr. Hermann (1851─1925) Staatswissenschaftler, MdR (Liberale Vereinigung)
  • Richter, Eugen (1838─1906) Jurist und Politiker, MdR (Fortschritt) und MdAbgH
  • 1BayHStA MA 77379, n.fol. »
  • 2Joseph Herrmann war seit 6.6.1882 Ministerialrat im bayer. Ministerium des Innern. »
  • 3Die Kommissionsberatung des Krankenversicherungsgesetzes war am 7.4. beendet worden, am 19.4.1883 hatte die zweite Lesung im Plenum begonnen, die Schlußabstimmung fand am 31.5.1883 statt, am 15.6.1883 wurde das Gesetz verkündet (RGBl, S. 73). »
  • 4Dieses erfolgte durch Tonio Bödiker, der die vorläufige Ermittlung summarischer Ergebnisse der berufsstatistischen Aufnahme vom 5. Mai v. J. mitteilte. Im Sitzungsprotokoll wurde aus den in sehr erheblichem Umfange erfolgten Mitteilungen hervorgehoben, daß die durch Unfall hervorgebrachten Erkrankungen etwa 1/8 der überhaupt versicherungspflichtigen Krankheitsfälle darstellen. Die Krankenbelastung durch Unfall stellt 16 % der gesamten Unfallbelastung dar (BArchP 01.01 Nr. 3080, fol. 150 Rs.). Bödiker hatte, wie drei überlieferte Handschreiben an den Grafen Wilhelm v. Bismarck belegen, seinen mit Aplomp erfolgten “Auftritt” von Bismarck ausdrücklich billigen lassen: Die prinzipiellen (liberalen) Gegner der ganzen Vorlage hätten mit steigender Dringlichkeit statistisches Material verlangt, zuerst Eberty, dann Löwe, endlich Hirsch: lauter prinzipielle Gegner der ganzen Vorlage. Als ich mit der Übersicht hervorkam, hieß es ‘aha’ in langsamem Schummer, und nach deren Benutzung, in Verbindung mit anderweitem Material über Krankenkassen etc., verstummte die Opposition, soweit sie auf Statistik fußte. Damit war die Einrede: “Wozu diese Eile mit dem Unfallgesetz, wartet doch mal erst ‘Eure’ (à la Richter) Statistik ab!” abgeschnitten. Peinlich war nur, daß eine Abnahme der Bevölkerung um 20154 gegenüber der Volkszählung vom 1.12.1880 festgestellt wurde, die an sich dem Trend zuwiederlief. Bödiker beauftragte daraufhin, daß eine von ihm abgegebene Erklärung dazu als Note in einen Winkel der Übersicht gestellt werde, die er gedruckt verteilen wollte, um dadurch die letztere gegen Mißbrauch zu sichern. Ich halte es für notwendig, zumal bei den Beziehungen (Dr. Max) Hirschs zu gewissen verflossenen Statistikern (vgl. Nr. 35). Bismarck stimmte dem zu, wobei er hineinredigierte, daß die Differenz nur als eine minimale und als ein Beweis von der Sorgfalt, mit der beide Zahlungen ausgeführt sind, angesehen werden könne (BArchP 07.01 Nr. 2069, fol. 125─ 128). »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 78, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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