II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 77

1883 April 11

Bericht1 über die erste Sitzung der VIII. Reichstagskommission2

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[Das gegenüber der zweiten Unfallversicherungsvorlage einzuschlagende Verfahren]

Die Kommission des Reichstags beschäftigte sich in ihrer Sitzung vom 11. d. [M.] ausschließlich mit der geschäftlichen Behandlung der Vorlage.3 Abg. Frhr. v. Hertling schlug vor, nicht eine Generaldebatte stattfinden zu lassen, sondern zunächst über die Organisation der Unfallversicherung (§§ 7 und 10 bis 14) als den neuen Hauptteil des Gesetzes zu beraten und, falls man mit den Vorschlägen der Regierung in betreff der Bildung von Gefahrenklassen, Betriebsgenossenschaften

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und Betriebsverbänden nicht einverstanden sei, sich womöglich über ein anderes System zu einigen und dasselbe als Resolution an den Reichstag zu bringen. Abg. Dr. Buhl erklärte sich zugleich namens seiner Freunde bereit, in die Beratung einzutreten, hielt es aber vor allem für notwendig, festzustellen, wie die Unfallentschädigung für die ersten dreizehn Wochen geordnet werden solle, da hiervon auch im wesentlichen das Urteil über die Organisation der Unfallversicherung abhänge. Nachdem die Kommission in dem Krankenversicherungsgesetz die bisherige Grundlage der Unfallversicherung beseitigt habe, müsse eine andere Basis gefunden werden, was er jedoch für sehr schwierig halte. Die Abg. Münch4 und Löwe5 bezweifelten bei der Geschäftslage des Reichstages die Möglichkeit der Durchberatung des weitschichtigen Entwurfes und verlangten vorherige Klärung dieser Vorfrage.

Regierungskommissar Geh. Regierungsrat Lohmann erklärte als Wunsch der verbündeten Regierungen, daß der Reichstag so lange tage, bis die Vorlagen erledigt seien. Die Regierungen hätten auch niemals auf den Zusammenhang zwischen Kranken- und Unfallversicherung verzichtet, ständen vielmehr noch jetzt auf dem Standpunkte, daß in den ersten dreizehn Wochen die Betriebsunfälle von den Krankenkassen zu tragen; auch habe es gar keine Schwierigkeit, die erforderlichen Bestimmungen in dem Unfallgesetz anzubringen. Auf jeden Fall erwarteten die verbündeten Regierungen, daß die Kommission und der Reichstag noch in dieser Session eine bestimmte Antwort auf die Unfallvorlage geben würden und sie zu dem Ende wenigstens in den Grundzügen durchberieten. Nachdem Abg. Lohren6 für spezielle Durchberatung plädiert, erklärte Abg. Dr. Hirsch, daß alle Parteien die endliche Erledigung der Haftpflichtfrage erstreben, daß man aber auch die Pflicht habe, die Kräfte nicht nutzlos zu vergeuden. Die Erklärung des Regierungskommissars bestätige seine Befürchtung, daß trotz aller Beschlüsse zum Krankenversicherungsgesetz 97 % aller Betriebsunfälle auf die Krankenkassen abgewälzt werden sollen. Darum müsse vor allem anderen über dies Verhältnis entschieden werden und dann über die Organisation. Abg. Eberty7 betonte gegen Lohren, daß die [ Druckseite 280 ] gesetzlichen und organisatorischen Grundlagen des Krankenkassen- und des Unfallgesetzes gänzlich verschieden seien, zumal letzteres in den Gefahrenklassen und Betriebsgenossenschaften etwas ganz Neues konstruiere; er erklärte sich für Beschränkung der Beratung auf einige hauptsächliche Gesichtspunkte, worunter auch der Reichszuschuß sich befinde. Auf Anfrage desselben Abgeordneten versprach der Regierungskommissar baldige Auskunft über die Veröffentlichung der Berufsstatistik. [...] Nach fernerer Diskussion, an welcher sich außer Geh. Ober-Reg.-Rat Lohmann die Abg. Dr. Buhl, Dr. Hirsch, Lohren, Dr. Paasche8, Frhr. v. Hertling beteiligten, resümierte der stellvertretende Vorsitzende, Abg. Frhr. v. Maltzahn-Gültz9, als Ergebnisse der Verhandlung, daß die Kommission zunächst eine Anzahl wichtiger Abschnitte in den Grundzügen beraten und dabei mit den Organisationsbestimmungen beginnen werde.

Registerinformationen

Personen

  • Bismarck, Herbert Graf von (1849─1904) Legationsrat im Auswärtigen Amt
  • Herrmann, Joseph (1836─1914) Ministerialrat im bayer. Innenministerium, stellvertretender Bundesratsbevollmächtigter
  • Hertling, Prof. Dr. Georg Freiherr von (1843─1919) Philosoph, MdR (Zentrum)
  • Löwe, Ludwig (1837─1886) Fabrikbesitzer, MdR (Fortschritt)
  • Maltzahn-Gültz, Helmuth Freiherr von (1840─1923) Rittergutsbesitzer, MdR (konservativ)
  • Paasche, Prof. Dr. Hermann (1851─1925) Staatswissenschaftler, MdR (Liberale Vereinigung)
  • Rottenburg, Dr. Franz von (1845─1907) Geheimer Regierungsrat, Chef der Reichskanzlei
  • Wilhelm I. (1797─1888) Deutscher Kaiser und König von Preußen
  • 1Zeitschrift für Versicherungswesen, 7. Jg. 1883, S. 162 f.; nachfolgend kürzen wir immer ab: ZfV. Das Konzept des Sitzungsprotokolls (SP): BArchP 01.01 Nr. 3080, fol. 148─149 Rs.; zum Verhältnis von Bericht und Protokoll vgl. die Einleitung. Die Zählung der Sitzungen begann mit der Beratung der Unfallversicherungsvorlage von neuem, zuvor hatte die gleiche Kommission schon in über 52 Sitzungen das Krankenversicherungsgesetz beraten. (BArchP 01.01 Nr. 3070) »
  • 2Der am 16.5.1882 konstituierten VIII. Reichstagskommission gehörten in der Zeit zwischen dem 11.4. und 12.6.1883 an:Deutschkonservative Partei: Karl Ebert, August Graf v. Dönhoff-Friedrichstein, Helmuth Frhr. Maltzahn-Gültz (stellv. Vorsitzender), Rudolf Wichmann;Deutsche Reichspartei: Dr. Paul von Kulmiz, Arnold Lohren;Zentrum: Heinrich Graf Adelmann (bis 24.4.1883), Franz Graf von Ballcstrem (26.4.─ 26.5.1883), Georg Frhr. v. Franckenstein, Alois Fritzen (ab 6.6.1883), Dr. Georg Freiherr v. Hertling (7.2.─26.5.1883), Dr. Ernst Lieber, Dr. Christoph Moufang, Ludwig Reichert (20.4.─5.6.1883), Magnus Reindl (bis 19.4.1883), Graf von Schönborn-Wiesentheid (ab 26.4.1883), Max Frhr. von Soden (bis 24.4.1883), Gerhard Stoetzel (ab 7.2.1883);Deutsche Fortschrittspartei: Dr. Heinrich Ed. Greve, Dr. Max Hirsch, Dr. Paul Langerhans, Julius Lenzmann, Ludwig Loewe, Gustav Münch (bis 14.4.1883), Dr. August Papellier (ab 19.4.1883);Nationalliberale Partei: Dr. Friedrich Boettcher (ab 19.4.1883), Dr. Armand Buhl, Dr. Hermann Müller (Sangerhausen), Dr. Julius Petersen (bis 14.4.1883), Gustav Pfähler;Liberale Vereinigung: Eduard Eberty, Dr. Egidi Gutfleisch, Dr. Eduard Lasker (bis 14.4.1883), Dr. Alexander Meyer (Halle, ab 29.5.1883), Dr. Hermann Paasche (bis 29.5.1883), Heinrich von Schirmeister (ab 19.4.1883).Als Regierungskommissare nahmen Bosse, Lohmann, Bödiker, Magdeburg und v. Woedtke fast an allen Kommissionssitzungen teil.Bismarck hatte seit April 1883 energisch auf Durchberatung der Unfallversicherungsvorlage gedrängt, und zwar einmal am 7.4.1883 in einem Gespräch mit Georg Freiherr von Hertling (Georg von Hertling, Erinnerungen aus meinem Leben, Bd. 2, München 1923, S. 23 ff.; Abdruck: Gesammelte Werke, Bd. 8, S. 404 ff., hier irrtümlich unter 1881): das Unfallversicherungsgesetz sei nun fast ein Jahr in den Händen der Mitglieder; es sei aber noch nicht einmal zur Beratung der Kommission gelangt. Die zweite Unfallversicherungsvorlage erstrebe die Durchführung der Unfallversicherung in direkter Annäherung an die Wünsche des Zentrums mittels korporativer Bildung. (...) Statt dieses Gesetzes habe die Kommission das Krankenkassengesetz durchberaten, allein die Krankenversicherung sei ein Stumpf ohne die Unfallversicherung; wer sorge für den verletzten Arbeiter nach Ablauf der dreizehn Wochen ─ und zum anderen durch eine in diesem Gespräch bereits angekündigte mahnende Kaiserliche Botschaft vom 14.4.1883, in der er Wilhelm I. Klage darüber führen ließ, daß die (gegenüber der Krankenversicherung) prinzipiell wichtigere Vorlage über die Unfallversicherung bisher nicht weiter gefördert worden ist. (ebd., 07.01 Nr. 1819, fol. 111─111 Rs.)Franz v. Rottenburg schrieb darüber am 19.4.1883 an Herbert v. Bismarck: Berlin ist stark aufgeregt durch die Kaiserliche Botschaft. Der Fortschritt ist wütend ─ was ich als gutes Zeichen begrüße. Heute werden die Geister im Reichstage aufeinanderplatzen. (Bismarck Archiv Friedrichsruh B 99) »
  • 3Vgl. Nr. 57. Im Hinblick auf diese Verfahrensdebatte galt erst die Sitzung vom 16.4. 1883 (vgl. Nr. 78) als “Beginn” der Beratungen. »
  • 4Gustav Münch (1843─1910), Ingenieur, seit 1881 MdR (Fortschritt). »
  • 5Ludwig Löwe (1837─1886), Fabrikbesitzer, seit 1878 MdR (Fortschritt). »
  • 6Arnold Lohren (1836─1901), Rentier, ehem. Fabrikant, MdR (Deutsche Reichspartei). »
  • 7Eduard Eberty (1840─1894), Stadtsyndikus, seit 1881 MdR (Liberale Vereinigung). »
  • 8Prof. Dr. Hermann Paasche (1851─1925), Staatswissenschaftler, seit 1881 MdR (Liberale Vereinigung). »
  • 9Helmuth Freiherr von Maltzahn-Gültz (1840─1923), Rittergutsbesitzer, seit 1871 MdR (konservativ). »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 77, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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