II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 71

1882 November 12

Brief1 des Geheimen Oberregierungsrates Theodor Lohmann an den Schuldirektor Dr. Ernst Wyneken

Ausfertigung, Teildruck2

[Lebensfähige Korporationen lassen sich nur durch indirekten Zwang durchführen, Beitragspflicht der Arbeiter (und daraus abgeleitete Beteiligungsrechte an der Verwaltung) ist geboten, die Arbeiterversicherungspolitik des Staates hat gegenüber einer sozialen Betriebsverfassung für die soziale Entwicklung nur einen sehr begrenzten Stellenwert]

[...] Du ermahnst mich in Deinem letzten Briefe, den Gang der sozialen Gesetzgebung nicht zu pessimistisch anzusehen und bekennst Dich zu der Hoffnung, daß ich mit meiner Kranken- und Unfallversicherung noch in einigermaßen vernünftiger Weise meinen Willen bekommen werde. Was die Krankenversicherung anbelangt, so halte ich diese Hoffnung auch meinerseits noch fest, d. h. wenn Bismarck sich überwinden kann, dem “untergeschobenen Kinde”, wenn es ihm demnächst vom Reichstage präsentiert wird, wirklich Kindesrechte einzuräumen, d. h. dem Bundesrate zu gestatten, es anzunehmen. Ob er das tun wird, wenn das Unfallver-

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sicherungsgesetz nicht gleichfalls zustande kommt, ist sehr fraglich. Daß letzteres geschehe, kann ich meinerseits nicht wünschen; wenn es geschähe, so wäre damit die Aussicht auf eine vernünftige Entwicklung dieser Angelegenheit ziemlich abgeschnitten. Denn so sehr ich für Versicherungszwang auch auf diesem Gebiete bin, ebensosehr bin ich überzeugt, daß dieser Zwang weder durch eine Reichsanstalt noch durch Zwangskorporationen zweckmäßig durchgeführt werden kann. Lebensfähige Korporationen lassen sich überhaupt nicht auf dem Wege des direkten Zwanges begründen, sondern nur auf dem des indirekten Zwanges, indem man mit der freiwilligen Errichtung und Pflege der Korporation so schwerwiegende Interessen verbindet, daß die einzelnen dadurch in diese Lebensform hineingedrängt und darin erhalten werden. Dafür hat Bismarck nicht das mindeste Verständnis. Dazu kommt ein andrer wichtiger Punkt. Auch ich halte eine vernünftige Gestaltung nur für möglich, wenn die Arbeiter mitzahlen und aufgrund des Mitzahlens auch mit verwalten. Regierung und Parteien haben sich aber in dem Bestreben, sich den Arbeitern freundlich zu erweisen, bereits derartig überboten, daß es sehr schwer sein wird, die ganze Entwicklung wieder auf gesunde Grundlagen zurückzuführen. In weiten Kreisen wird es schon als ein Axiom verkündigt, daß die Unfallversicherung ohne Zutun der Arbeiter ausschließlich von den Arbeitgebern bestritten werden müsse. Wer jetzt mit einem auf dem entgegengesetzten Grundsatze beruhenden Vorschlage kommt, setzt sich von vornherein der Beschuldigung mangelnder Arbeiterfreundlichkeit aus. Endlich ist diese Seite der Arbeitergesetzgebung viel zu weit aufgebauscht; sie hat in Wahrheit gar nicht die Bedeutung für die soziale Entwicklung, welche man sich in den letzten Jahren gewöhnt hat, ihr beizulegen. Mir ist das auf der Ministerreise3 mal wieder sehr lebhaft entgegengetreten bei einigen industriellen Unternehmungen, für deren Arbeiter durch die großartige und verständige Tätigkeit weitblickender Arbeitgeber die soziale Frage wirklich als gelöst angesehen werden kann, während in dem System der darauf berechneten Einrichtungen die Versicherung nur eine mäßige Rolle spielt. Das Entscheidende auf den in dieser Beziehung hervorragenden Anlagen war immer, daß der Unternehmer es verstanden hatte, sein Beamten- und Arbeiterpersonal zu einem wohlgeordneten Gemeinwesen zu entwickeln, in welchem jeder einzelne in seiner Menschenwürde anerkannt wird, sich als Glied eines auch für ihn sorgenden aber auch auf ihn rechnenden Ganzen fühlt, und dadurch eine Befriedigung ermöglicht, welche durch die bloße Sicherung der materiellen Existenz niemals erreicht werden kann.4

Damit ich das nicht vergesse: Lorenz von Stein hat auf meinen letzten Brief noch nicht geantwortet. [...] Es folgen Ausführungen über das Studium des Sohnes Ernst und über die Lektüre theologischer Schriften. Du siehst hieraus, daß ich noch nicht wieder unter Arbeitshetze leide. Ich habe jetzt auch den Bericht über die Ministerreise fertig, weiß aber noch nicht, was der Minister dazu sagen wird, fürchte fast, daß er ihm zu nüchtern ist. Zu meinen Toasten5 sagte er gar nichts, war aber während [ Druckseite 265 ] der ganzen Reise furchtbar liebenswürdig gegen mich und ging auf keinen Vorschlag ein, ohne mich um meine Meinung zu fragen, indem er mich immer “sein Gewissen”6 nannte.

Registerinformationen

Personen

  • Stein, Prof. Dr. Lorenz von (1815─1890) Staatswissenschaftler
  • Stumm, Karl Frhr. von (1836─1901) Industrieller, MdR (freikonservativ/ Deutsche Reichspartei
  • 1BArchP 90 Lo 2 Nr. 2, fol. 158─160 Rs. »
  • 2Die ausgelassenen Abschnitte betreffen Persönliches und Familienangelegenheiten. »
  • 3Vgl. Nr. 70 Anm. 6. »
  • 4Um das ansatzweise zu erreichen, insistierte Th. Lohmann auf den vielen kleinen Genossenschaften als organisatorische Grundlage der gesetzlichen Unfallversicherung. »
  • 5Bei einem großen Festessen in Düsseldorf im Verlaufe der Inspektionsreise hatte Lohmann in einem Toast die Gesellschaft aufgefordert, auf das Wohl der Arbeiter des rheinisch-westfälischen Industriebezirks zu trinken. (BArchP 90 Lo 2 Nr. 2, fol. 152─ 157 Rs.; Teildruck: Nr. 70) »
  • 6Vgl. dazu auch Nr. 105 Anm. 7. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 71, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.02.01.0071

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