II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 70

1882 Oktober 15

Brief1 des Geheimen Oberregierungsrates Theodor Lohmann an den Schuldirektor Dr. Ernst Wyneken

Ausfertigung, Teildruck2

[Kritik an Bismarck: Dessen Sozialpolitik (Kaiserliche Botschaft) ist ein “totgeborenes Kind”; was Lohmann an brauchbaren politikfähigen Entwürfen (Krankenversicherung) geschaffen hat, wird von jenem verächtlich als “untergeschobenes Kind” betrachtet, Referat der Auffassungen Lorenz von Steins]

[...] Hoffentlich werde ich auch einstweilen noch nicht wieder dienstlich so in Anspruch genommen werden, daß ich nicht Zeit fände, dergleichen zu lesen. Wir haben ja für die bevorstehende Reichstagssession keine erheblichen Vorbereitungen zu treffen, da unsere Gesetzentwürfe bei Wiedereröffnung der nur vertagten Sitzung ruhig weiter beraten werden; freilich, wie ich annehme, mit sehr wenig Aussicht auf Erfolg, mit weniger als vor der Vertagung vorhanden war, da inmittelst auch die Chancen, welche für das Zustandekommen einer zustimmenden Majorität mit Hilfe des Zentrums bestanden, erheblich schlechter geworden sind, dank dem blödsinnigen Vorgehen der offiziösen, diesmal anscheinend von Bismarck höchst eigenhändig inspirierten Presse.3 Er verrennt sich allmählich immer mehr in die

[ Druckseite 262 ]

ausschließliche Anbetung seiner eigenen Meinungen, obwohl sie auf dem Gebiete der inneren Politik häufig nur den Charakter von augenblicklichen Einfällen haben. Darüber passiert es sogar diesem in erster Linie realistischen Staatsmanne, daß er unglaublich unpraktisch wird und sich in einen politischen Doktrinarismus verrennt, vermöge dessen er die Regierung lieber in eine vereinsamte, für die Erreichung praktischer Ziele untaugliche Stellung bringt, als daß er etwas von seinen höchst subjektiven Anschauungen aufgibt. Ich sehe die ganze “Sozialpolitik der Kaiserlichen Botschaft”4 so ziemlich als ein totgeborenes Kind5 an, von dem für die Zukunft nicht viel mehr übrigbleiben wird als die Verallgemeinerung der, übrigens nicht von Bismarck ausgegangenen Erkenntnis, daß die Politik der europäischen Staaten für die Zukunft in erster Linie sich mit der sozialen Gesetzgebung zu befassen hat. Aber traurig ist der Gedanke, was hätte ausgerichtet werden können, wenn dieser Mann die Fähigkeit gehabt hätte, sich die Beschränkung aufzuerlegen, nur die allgemeine Richtung der Politik zu bestimmen und die einzelnen in dieser Richtung zu tuenden Schritte Leuten zu überlassen, welche wirklich etwas davon verstehen. Wir hätten jetzt schon eine ganz schöne Ernte im Trockenen haben können, und zwar nach meiner Überzeugung unter Zustimmung aller Parteien mit Ausnahme der unverbesserlichen Manchestermänner, deren es aber heutzutage nur noch wenige gibt. Jetzt werden wir höchstens ─ und dann wahrscheinlich etwas verschlechtert ─ das Krankenversicherungsgesetz bekommen und damit allerdings das, was von unseren bisherigen Entwürfen allein brauchbar ist, von Bismarck aber als ein verächtliches, ihm untergeschobenes Kind betrachtet wird.

Lorenz von Steins Bedenken wurzeln in dem Satze, daß der Staat dem einzelnen nicht die Fürsorge für sich selbst abnehmen, sondern nur die Hindernisse, welche dem einzelnen diese Fürsorge unmöglich machen, hinwegräumen und daneben diejenigen Einrichtungen treffen dürfe, für welche die Privatinitiative unzureichend. Ob er damit nur die Staatssicherung oder auch jeden Versicherungszwang ausschließen [ Druckseite 263 ] wollte, war in seinem Briefe nicht ganz klar. Ich habe ihm deshalb nochmal geschrieben und ihm auseinandergesetzt, daß für weite Kreise unserer Arbeiterbevölkerung die Versicherung ─ zunächst also die Krankenversicherung ─ nur durch den Versicherungszwang ermöglicht werde, weil dadurch allein ein Zustand herbeigeführt werde, bei welchem die Versicherungsprämie auf dieselbe Linie wie die notwendigen Lebensbedürfnisse gelange und folgeweise gleich diesen bestimmend für die Minimallöhne werde; daß demnach der Staat Recht und Pflicht habe, den Versicherungszwang einzuführen, soweit er imstande sei, ihn durchzuführen, was ich hinsichtlich der Unfall- und Krankenversicherung, nicht aber für Invaliden-, Witwen- und Waisen-Versicherung annehme. Bin neugierig, ob und was er darauf antworten wird. Darin bin ich ganz mit ihm einverstanden, daß der Staat nichts Unklügeres tun kann, als dem Arbeiter die Fürsorge für sich selbst abnehmen, und damit das Gefühl der Selbstverantwortlichkeit und das Streben nach wirtschaftlichem Fortschritt ertöten. Deshalb bin ich auch entschieden dagegen, irgendeine Versicherung einzuführen, bei welcher der Arbeiter gar nichts zahlt oder der Staat für ihn zahlt. Freue mich daher auch, daß auf unserer Reise6 eigentlich überall von den Industriellen unisono an den Minister die Forderung herantrat, dafür zu sorgen, daß “den Arbeitern nicht Geschenke gegeben würden.” [...]

Registerinformationen

Personen

  • Boetticher, Karl Heinrich von (1833─1907) Staatssekretär des Innern
  • Lohmann, Theodor (1831─1905) Geheimer Oberregierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Wyneken, Dr. Ernst Friedrich (1840─1905) Philosoph und Theologe, Freund Theodor Lohmanns
  • 1BArchP 90 Lo 2 Nr. 2, fol. 152─157 Rs. »
  • 2Die ausgelassenen Abschnitte betreffen persönliche und kirchliche Angelegenheiten sowie die Schilderung des Verlaufs einer Inspektionsreise mit Karl-Heinrich v. Boetticher. »
  • 3Die Andeutungen für einen Ausgleich mit der Zentrumspartei, die Bismarck nach der Reichstagswahl von 1881 gemacht hatte (vgl. Nr. 20 u. 21) waren schon Anfang Dezember 1881 wieder durch scharfe Auseinandersetzungen mit Ludwig Windthorst “übertönt” worden (vgl. dazu Gesammelte Werke, Bd. 6c, Nr. 241); mochte diese Polemik noch einer Förderung der Gruppierungstendenzen im Zentrum, d. h. Begünstigung eines aristokratisch-großagrarischen bzw. “konservativen” und Isolierung eines eher bürgerlich-demokratischen Flügels des Zentrums um Windthorst dienen, zumal im Frühjahr sich ein modus vivendi in Kulturkampffragen zwischen Regierung und Zentrum anbahnte, so hatte im Spätsommer ─ wohl angesichts der Wahlen zum preußischen Abgeordnetenhaus ─ wieder die allgemeine Kulturkampfpolemik eingesetzt. Das Bismarckblatt “Norddeutsche Allgemeine Zeitung” schrieb u. a. vom politischen Kampf des Zentrums gegen den Staat der Gegenwart, unsern Staat und warnte die Konservativen davor, sich mit dem Zentrum vor den Karren katholisch-kirchlicher Interessen spannen zu lassen (Nr. 478 v. 12.10.1882). Das Zentrumsorgan “Germania” (Nr. 465) konterte am 11.10.1882: Die Offiziösen (...) sehen das Heil des Vaterlandes nur in der Verhütung des Zustandekommens einer klerikal-konservativen Mehrheit bei den nächsten Wahlen. Die vielversprochenen sozialen und wirtschaftlichen Reformen werden bereitwillig preisgegeben, um ja nur eine gefügige Mittelpartei auf die Beine zu bringen. Die Sozialdemokraten mögen sich freuen. »
  • 4Gemeint ist die Kaiserliche Sozialbotschaft vom 17.11.1881, vgl. dazu Bd. 1 der I. Abteilung dieser Quellensammlung und Nr. 36 Anm. 4. »
  • 5Wohl Replik auf Bismarcks Äußerungen zum untergeschobenen Kind, vgl. Nr. 53. »
  • 6Vom 12.-23.8.1882 unternahm Lohmann mit seinem Chef Karl-Heinrich von Boetticher eine Inspektionsreise durch das niederrheinisch-westfälische Industriegebiet (vgl. dazu BArchP 15.01 Nr. 7109 u. 7110). »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 70, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.02.01.0070

Nachnutzung: Digitale Quellensammlung und Forschungsdaten stehen unter einer Creative Commons Attribution 4.0 International (CC-BY 4.0) Lizenz. Weiterverwendung unter Namensnennung und Angabe des Permalinks.