II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 69

1882 Oktober 12

Entwurf einer Stellungnahme1 des Zentralverbandes deutscher Industrieller zur zweiten Unfallversicherungsvorlage

Druck, Teildruck2 mit Randbemerkungen Bosses und Lohmanns

[Detaillierte Stellungnahme zu den materiellen Bestimmungen der Unfallversicherungsvorlage, Kritik an der vorgeschlagenen Organisation und an selbständigen Arbeiterausschüssen, grundsätzliches Einverständnis mit dem Umlageverfahren zur Aufbringung der Kosten]

Abänderungsvorschläge zum Gesetzentwurf betreffend die Unfallversicherung der Arbeiter

Vorbemerkungen.

I. Die statistischen Erhebungen, welche die Reichsregierung in bezug auf die Unfallvorlage veranstaltet hat, erstreckten sich auf 93 554 gewerbliche Betriebe mit 1 615 253 männlichen und 342 295 weiblichen, zusammen 1 957 548 Arbeitern,

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also rund 2 Millionen Arbeiter. Die Erhebungen umfassen die Monate August, September, Oktober, November 1881. Um zum Jahresergebnis zu gelangen, sind die ermittelten Zahlen mit 3 multipliziert worden.

Die gesamte, durch Unfälle entstehende Belastung wird für die Krankenkassen auf 2 749 295 Mark und für die Unfallkassen auf 13 796 872 Mark veranschlagt, zusammen also auf 16 546 167 Mark.

Von dieser Gesamtsumme von rund 17 Millionen Mark würden etwa 16 1/2 % auf die Krankenkassen und 11 % auf die zu diesen 2/3 der Beiträge leistenden Arbeiter entfallen.

Für die richtige Beurteilung und Würdigung der Vorlage ist im Auge zu behalten, daß die vorstehend aufgeführten 2 749 295 Mark nur denjenigen Teil der Krankenkassenbelastung ausmachen, welcher durch Unfälle entsteht, die eine Arbeitsunfähigkeit von weniger als 13 Wochen zur Folge haben.

Die den Krankenkassen aus Krankheiten aller Art, einschließlich der Unfälle, erwachsene Belastung wird für 2 Millionen Arbeiter in einem offiziösen Artikel der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung wie folgt berechnet: Nach statistischen Ermittlungen kommen auf den Arbeiter im Durchschnitt jährlich 7 Krankentage (infolge innerer Krankheit, Unfall etc.). Wird für die 7 Tage eine Krankenunterstützung mit 2/3 des Lohnes angenommen, so ergibt sich für

1 650 000 männliche Arbeiter mit 2/3 des durchschnittlichen Tagelohns von Mark 2,50 Mark

19 250 000

und für 350 000 weibliche Arbeiter mit 2/3 eines durchschnittlichen Tagelohns von Mark 1,25 "

2 041 666

Summe Mark

21 291 666

Kranken- und Unfallversicherungen würden sonach für zusammen 2 Millionen Arbeiter bei den angenommenen Löhnen jährlich rund 35,3 Millionen Mark gleich 2,58 % des Lohnes erheischen. Auch diese Summe repräsentiert noch nicht die Gesamtbelastung, welche dem Deutschen Reiche aus den beiden Unfallgesetzen erwachsen wird, da die Zahl der unter die Kranken- und Unfallversicherung fallenden Arbeiter3 die Summe von 2 Millionen, welche den amtlichen Denkschriften zugrunde gelegt ist, bei weitem übersteigen wird.

II. Wenn die Kommission die ihr vom Zentralverbande gestellte Aufgabe lösen soll, so wird sie sich nicht bloß auf die Erörterung einiger Kardinalsprinzipien beschränken, sondern das ganze Gesetz, die Detailbestimmungen desselben, die Struktur und den Aufbau der Versicherungsinstitute in den Bereich ihrer Prüfung ziehen müssen.

Hierbei werden vorzugsweise die materiellen Bestimmungen des Gesetzes in Betracht zu ziehen sein, und es wird den legislativen Körperschaften belassen werden können, für eine richtige und korrekte Formulierung der einzelnen Paragraphen Sorge zu tragen.

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ad § I.

Für den Eisenbahn- und Schiffahrtsbetrieb, sofern sie nicht etwa integrierende Teile eines versicherungspflichtigen Fabrikbetriebes sind, bleibt das alte Unfallgesetz4 in Kraft.

Die von den Landwirten als Nebengewerbe in Verbindung mit der Landwirtschaft betriebenen Fabrik- und sonstigen Anlagen, in denen dauernd eigene Kraftmaschinen verwendet werden, fallen unter dieses Gesetz. Es scheint wünschenswert, in Übereinstimmung mit den Beschlüssen des Volkswirtschaftsrats, das letztere auszudehnen auch auf alle übrigen Arbeiter in land- und forstwirtschaftlichen Betrieben.

ad § 2 bis einschließlich § 6.

Die Fassung dieser Vorschriften stimmt im wesentlichen mit den vom Volkswirtschaftsrate früher geäußerten Wünschen und mit dem nach den Beschlüssen des Reichstags in dritter Lesung angenommenen Wortlaute überein. Wenn auch das Gesetz nach § 1 Anwendung finden soll auf Arbeiter und Betriebsbeamte mit einem Jahresverdienste an Lohn oder Gehalt bis 2000 Mark, so wird doch im § 5 No. 2 der zu gewährenden Entschädigung nur derjenige Teil des Einkommens zugrunde gelegt, welcher 1200 Mark für das Jahr oder 4 Mark pro Tag nicht übersteigt.

ad § 7 bis einschließlich § 14.

A. Der Aufbau des Versicherungswesens, wie er in diesen Paragraphen vorgeschrieben ist, erscheint nicht zweckmäßig und dürfte sich als kaum durchführbar erweisen.

Während die erste Vorlage der Regierung vom 8. März 1881 davon ausging, daß eine einheitliche Reichsversicherungsanstalt für den Umfang des ganzen Deutschen Reiches geschaffen werden solle, und während der Reichstag an deren Statt für jeden Bundesstaat eine für seine Rechnung zu verwaltende eigene Landesversicherungsanstalt begründen wollte, soll nach der neuen Vorlage der Regierung vom 8. Mai 1882 das Versicherungswesen genossenschaftlich organisiert werden.

Durch die 13wöchentliche Karenzzeit werden mehr als 95 % aller Unfälle den Krankenkassen überwiesen, und es fallen somit nur 4 ─ 5 % in den Bereich der Unfallkassen. Obwohl vermöge dieser Einschränkung der letzteren auf einen geringen Bruchteil aller Unfälle die Herstellung einer Reichsversicherung erleichtert wird, so würde doch der korporative Aufbau mancherlei Vorzüge für sich haben, zumal dadurch die notwendige Dezentralisation und Selbstverwaltung der genossenschaftlichen Interessen von selbst gegeben ist. In der komplizierten Weise, wie die Regierung sich die korporativen Elemente gedacht hat, erscheint jedoch die Durchführung nicht möglich.

Zunächst sollen alle Industriezweige in Gefahrenklassen eingeteilt werden, und jede Gefahrenklasse, durch das ganze Deutsche Reich sich erstreckend, soll eine Genossenschaft ausmachen.5 In den Motiven der Regierungsvorlage sind vorläufig [ Druckseite 256 ] zehn Gefahrenklassen in Vorschlag gebracht. Die Regierung sieht diese Einteilung gleichfalls nur als eine interimistische an, und die definitive Feststellung wird sich erst ermöglichen lassen, wenn längere Erfahrungen vorliegen werden, da die viermonatlichen Erhebungen, welche jetzt die Grundlage bilden, keine vollständig zuverlässige Basis geben dürften.

Jede Gefahrenklasse enthält eine größere Anzahl von Industriezweigen und Betriebsarten; beispielsweise sind in Klasse VII 24 Industriezweige und Betriebsarten, in Klasse VIII mehrere 40 Industriezweige und Betriebsarten enthalten.

Neben den Gefahrenklassen sollen ferner Betriebsgenossenschaften gebildet werden, welche in der Regel alle im Bezirke einer höheren Verwaltungsbehörde belegenen Betriebe umfassen sollen, die denselben Industriezweig oder derselben Betriebsart angehören; es kann jedoch auf Antrag der Beteiligten eine Betriebsgenossenschaft für die Betriebe mehrerer, derselben Gefahrenklasse angehörenden Industriezweige oder Betriebsarten gebildet werden.

Nehmen wir an, daß im Deutschen Reiche ungefähr 70─75 höhere Verwaltungsbezirke vorhanden sind, so würden wir, da für die Betriebe, welche demselben Industriezweige oder derselben Betriebsart angehören, als Regel eine besondere Betriebsgenossenschaft gebildet werden soll, und jede Gefahrenklasse im Durchschnitt 30 Industriezweige und Betriebsarten umfaßt, mit 75 multipliziert, 2250 Betriebsgenossenschaften haben. Da es aber in jedem höheren Verwaltungsbezirke Betriebe gibt, welche sich zu einer eigenen Genossenschaft nicht eignen, so sollen nach § 14 alle diejenigen Betriebe, welche einer speziellen Betriebsgenossenschaft nicht zuzuweisen sind, zu einem Betriebsverbande vereinigt werden. Es würden somit zu den 10 Gefahrenklassen und den 2250 Betriebsgenossenschaften noch mindestens 75 Betriebsverbände hinzukommen.

Für die Bergwerke und für Betriebe, in welchen explosive Stoffe hergestellt werden, sollen die Bezirke der Genossenschaften unabhängig, nicht bloß von den Verwaltungsbezirken, sondern selbst von den Landesgrenzen, vom Bundesrate festgestellt werden, und durch Beschluß desselben können den gedachten Betrieben andere Betriebe gleichgestellt werden, für welche die Gefahr von Massenverunglückungen oder die Höhe der Unfallgefahr eine von den Landesgrenzen unabhängige Genossenschaftsbildung zweckmäßig erscheinen lassen.

Es würden sonach zu den bereits erwähnten 10 Gefahrenklassen, 2250 Betriebsgenossenschaften und 75 Betriebsverbänden noch eine ganze Anzahl Genossenschaften hinzukommen. Die Genossenschaften sollen überdies in Abteilungen zerfallen, und jede Abteilung soll wieder einen Vorstand haben. Wenn die Genossenschaft mehrere Industriezweige und Betriebsarten umfaßt, so muß für jeden Industriezweig oder für jede Betriebsart mindestens eine Abteilung mehr mit besonderen Vorständen gebildet werden. Betriebe, welche eine größere Anzahl versicherter Personen beschäftigen, sollen wiederum eine besondere Abteilung für sich bilden. Eine solche Anhäufung korporativer Elemente und eine derartig komplizierte Maschinerie kann unmöglich zweckmäßig funktionieren.

Es tritt hinzu, daß zu einer geordneten Genossenschaftsverwaltung, in welcher ein korporativer Geist erhalten und korporative Zwecke erfüllt werden sollen, ein räumlich zusammenhängender Bezirk gehört, was nach der Vorlage der Regierung in keiner Weise der Fall ist. Bei den Gefahrenklassen, die durch das ganze Reich [ Druckseite 257 ] gehen, ist nach der Regierungsvorlage von einer genossenchaftlichen Verwaltung überhaupt nicht die Rede.

Die Betriebsgenossenschaften werden gebildet aus einzelnen Etablissements, die über einen ganzen Regierungsbezirk verstreut liegen und zwischen denen jede Kommunikation nur durch größere Reisen vermittelt werden kann. Dasselbe trifft in erhöhtem Grade zu bei Betriebsverbänden, und alle liegen miteinander im Gemenge, ohne daß zwischen ihnen irgendein administrativer Zusammenhang stattfände.

Nach § 7 der Regierungsvorlage sollen die zu leistenden Entschädigungen aufgebracht werden mit

60 % von der Gefahrenklasse,

15 % von den Betriebsgenossenschaften resp. Betriebsverbänden und

25 % vom Staate.

Obwohl hiernach von den Betriebsgenossenschaften und resp. Betriebsverbänden nur der kleinere Teil der zu leistenden Entschädigungen aufzubringen ist, so ist doch von selbst einleuchtend, daß diese korporativen Bildungen eine Garantie ihrer dauernden Prästationsfähigkeit geben müssen. Bei der Art der Genossenschaftsbildung, wie die Regierungsvorlage sich dieselbe gedacht hat, würde aber diese dauernde Prästationsfähigkeit nicht zu sichern sein.

Es erscheint daher zweckmäßig, neben den Betriebsgefahrenklassen, die durch das ganze Reich gehen, alle innerhalb eines höheren Verwaltungsbezirks belegenen versicherungspflichtigen Betriebe zu einem einheitlichen Versicherungsverbande zusammenzulegen. Dadurch würde der Mechanismus und der Aufbau des ganzen Versicherungswesens vereinfacht, die räumliche Nähe würde eine genossenschaftliche Verwaltung ermöglichen und die Prästationsfähigkeit für die den Bezirksverbänden überwiesenen 15 % wäre dauernd sichergestellt.

In jedem Betriebsverbande wären behufs zweckmäßiger Erledigung der Geschäfte und behufs Ermöglichung der Durchführung der Selbstverwaltung eine Anzahl räumlich zusammenhängender Abteilungen zu bilden, die sich möglichst an die bestehende politische Einteilung in den betreffenden Staaten (Kreise, Bezirkshauptmannschaften, größere Kommunen usw.) anzulehnen hätten.

Die Regierungsvorlage erkennt ausdrücklich an, daß es sich bei der Regelung und Durchführung der Arbeiterversicherung um öffentliche Interessen handelt, daß das Reich und resp. die einzelnen Bundesstaaten auf das wesentlichste dabei interessiert sind, daß politische, staatserhaltende Zwecke dadurch gefördert werden sollen. Ist dies aber der Fall, so muß der öffentliche, staatliche Charakter des ganzen Unternehmens auch in der Organisation durchgeführt sein, und es liegt dann kein Grund vor, willkürliche Konstruktionen eintreten zu lassen und die bereits vorhandenen administrativen Staatsorgane beiseite zu schieben, vielmehr wird es die Aufgabe des Gesetzgebers sein müssen, das ganze Kranken- und Unfallversicherungswesen möglichst in den bestehenden Staatsverwaltungsapparat hineinzufügen. Die Verwaltung wird dadurch vereinfacht, es werden bedeutende Kosten gespart und mancherlei Fragen, bezüglich deren hierbei Zweifel entstehen könnten, lösen sich von selbst.

Es würde sonach neben den Reichsgefahrenklassen jeder höhere Verwaltungsbezirk einen Bezirksverband bilden und wiederum, entsprechend der politischen Einteilung [ Druckseite 258 ] in Kreise, Bezirkshauptmannschaften, größere Kommunen etc., je nach Bedürfnis, in räumliche zusammenhängende Abteilungen zerfallen. Für die Aufbringung der Lasten des Bezirksverbandes würden die Gefahrenklassen den Maßstab der Verteilung bilden, und es würde selbst für Bergwerke der Bildung von Extragenossenschaften über die Bezirks- oder resp. Landesgrenzen hinaus, wie es der § 13 vorschreibt, in der Regel nicht bedürfen. Es versteht sich übrigens von selbst, daß Ausnahmen nach allen Richtungen hin zulässig sein müssen, und daß da, wo die Verhältnisse dies dringend notwendig machen, die Landesregierungen befugt sein müssen, Modifikationen eintreten zu lassen.

Diese Bezirksbildung würde auch das ganze Rechnungs- und Erhebungswesen erheblich vereinfachen, worauf wir später bei den betreffenden Paragraphen noch einmal zurückkommen werden.

B. Nach § 7 sollen alle Beiträge aufgebracht werden:

mit 60 % von den Gefahrenklassen,
" 15 % " " Betriebsgenossenschaften resp. Betriebsverbänden und
" 25 % vom Reiche.

Nach den Beschlüssen des Reichstags in 3. Lesung sollten die Versicherungsprämien zu

2/3 vom Betriebsunternehmer

1/3 von den Arbeitern resp. Beamten aufgebracht werden, während der Staat resp. das Reich von allen Zuschüssen freibleiben sollte.

Die Heranziehung der Arbeiter zur Tragung eines Teils der Unfallversicherungslast ist nicht sowohl aus finanziellen, als vielmehr aus ethischen Gründen eine durchaus berechtigte und festzuhaltende Forderung, wie es auf der anderen Seite ebenso notwendig ist, daß der Staat resp. das Reich aus den in den Motiven der Regierungsvorlage erschöpfend angeführten Gründen mit einem Beitrage von 25 % herangezogen werden muß.

Hiernach wird folgende Verteilung der Last in Vorschlag gebracht:

die Gefahrenklassen haben beizutragen 50 %
die Bezirksverbände 15 %
die versicherten Arbeiter und Beamten 10 %
und das Reich 25 %
[...]

ad § 33.

Nach der Regierungsvorlage ist für die Aufbringung der Entschädigungsbeträge und der Verwaltungskosten ein verschiedener Maßstab vorgeschrieben, je nachdem es sich um Gefahrenklassen, Betriebsgenossenschaften oder Betriebsverbände handelt. Bei den Betriebsgenossenschaften sind die Beiträge zu repartieren nach Maßgabe der in den Betrieben von den Versicherten verdienten Löhne und Gehälter; bei den Betriebsverbänden (§ 37 No. 4) wird jedes Verbandsmitglied nach demjenigen Prozentsatze der in seinem Betriebe verdienten anrechnungsfähigen Löhne und Gehälter herangezogen, welcher in Gemäßheit des § 10 Absatz 2 für die Ge-

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fahrenklasse, welcher der Betrieb angehört, als Durchschnittsmaß der Unfallgefahr festgesetzt ist.

Es sollen daher besondere Nachweisungen aufgestellt werden für die Betriebsgenossenschaften nach Industriezweigen und Betriebsarten, für die Betriebsverbände nach Gefahrenklassen und innerhalb der letzteren nach Industriezweigen und Betriebsarten geordnet (cfr. § 99 al. 2). Für die Kosten der Reichszentralstelle und ihrer Verwaltung ist anscheinend ein abweichender Modus im § 98 al. 4 vorgeschrieben. Danach sollen diese Kosten gleichmäßig auf alle versicherungspflichtigen Betriebe nach Maßgabe der in denselben von dem Versicherten verdienten anrechnungsfähigen Löhne und Gehälter ohne Rücksicht auf das Durchschnittsmaß der Unfallgefahr umgelegt werden.

Diese zahllosen Nachweisungen werden wesentlich vereinfacht, wenn die Bezirksorganisation in Kraft tritt. Soweit die bereits bestehenden unteren Polizeibehörden, die unteren und oberen Verwaltungsbehörden bei der Administration der Kranken- und Unfallversicherung mitzuwirken haben, ist diese Mitwirkung bis auf die Bestimmung im § 113 eine unentgeltliche. Für die zu errichtende Reichszentralstelle sollen die Kosten von den versicherungspflichtigen Betrieben erstattet werden. Das Reich gewährt die 25 % nur zu den Entschädigungsbeiträgen, zu den Verwaltungskosten trägt das Reich nichts bei, cfr. § 110.

Da aber die Ordnung des ganzen Versicherungswesens eine öffentliche und Reichsangelegenheit ist, so dürfte das Reich verpflichtet sein, die durch seine behördliche Mitwirkung entstehenden Kosten einschließlich der Kosten der Reichszentralstelle aus Reichsmitteln zu tragen, ebenso wie die Kosten für das Bundesamt, für das Heimatwesen aus öffentlichen Mitteln zu tragen hat [recte: sind].

Da die Armenpflege, was niemals bestritten worden ist, als eine Staats- resp. Reichsangelegenheit behandelt wird, so ergibt sich von selbst, daß auch alle diejenigen Kosten, welche durch eine Verbesserung der Armenpflege entstehen, aus öffentlichen Mitteln bestritten werden müssen, und die Motive der Regierungsvorlage erklären ausdrücklich, daß die neuen Versicherungseinrichtungen den Charakter einer verbesserten Armenpflege an sich tragen. [...]

ad § 54 bis einschließlich § 59.

Für jede Betriebsgenossenschaft und jeden Betriebsverband sollen Arbeiterausschüsse gewählt werden, die aus mindestens 12 und höchstens 24 Mitgliedern bestehen sollen; die Ausschüsse sollen in Sektionen zerfallen und die Wahl aller Mitglieder nur von Arbeitern allein, ohne Beteiligung der Unternehmer, vorgenommen werden.

Wenn man sich vergegenwärtigt, daß die Zahl der Betriebsgenossenschaften und Betriebsverbände mehrere Tausende beträgt, so wären diese Arbeiterausschüsse nichts anderes als eine Mobilisierung der Sozialdemokratie und Herstellung eines Generalstabs für alle eventuellen Aktionen derselben. Die gedachten Paragraphen müssen in Wegfall kommen, sie sind vollständig überflüssig. Wenn die Arbeiter zu den Unfallasten herangezogen werden und dann zu den Mitgliedern der Genossenschaften gehören, werden sie bei der Verwaltung und dem Vorstande derselben [ Druckseite 260 ] beteiligt sein müssen6. Sie sind aber auch überflüssig, wenn wider alles Erwarten die Beteiligung der letzteren an den Unfallasten von den legislativen Faktoren abgelehnt werden sollte, weil die wenigen Funktionen, die dem Arbeiterausschusse überwiesen worden sind, auf eine viel zweckmäßigere und einfachere Weise wahrgenommen werden können. [...]

ad § 82.

Dem Verletzten soll ein Anspruch nicht zustehen, wenn er den Unfall vorsätzlich herbeigeführt hat. Die Ansprüche der Hinterbliebenen sollen aber dadurch nicht berührt werden.

Die Bestimmung ist aus der dritten Lesung der ersten Vorlage herübergenommen, nur fand sich dort noch der Zusatz: “oder durch einen anderen hat zufügen lassen.” Auch der Volkswirtschaftsrat hat sich mit dieser Fassung einverstanden erklärt.

Nach § 116 sind übrigens die bestehenden allgemeinen Vorschriften vom Schadensersatze gleichfalls dahin abgeändert, daß die Verletzten über die ihnen nach dem Versicherungsgesetze zustehende Entschädigung hinaus den Betriebsunternehmer gleichfalls in Anspruch nehmen können, wenn der Unfall von ihm vorsätzlich herbeigeführt worden ist. Freilich soll der Betriebsunternehmer nach § 117 verpflichtet sein, der Unfallkasse vollständigen Ersatz für alle Aufwendungen zu leisten, wenn er einen Unfall nicht bloß vorsätzlich, sondern auch durch grobes Verschulden herbeigeführt hat.

Trotz alledem dürfte der § 82 in seiner Fassung beizubehalten sein (cfr. §§ 116 und 117).

ad § 84 bis einschließlich § 97.

Es ist ein wesentlicher Vorzug der neuen Vorlage, daß durch die Unzulässigkeit des Rechtswegs einer großen Anzahl von Prozessen vorgebeugt ist, und daß die Entscheidung in die Hand eines Schiedsgerichts gelegt wird; denn nach § 91 ist nur über die Feststellung der Familienverhältnisse, in § 6 No. 2 also über die Frage, wer überhaupt zu den Hinterbliebenen des Getöteten gehört, der Rechtsweg nachgelassen.

Es war ein glücklicher Gedanke, die Postverwaltungen und Postkassen mit den Zahlungen der Rente zu betrauen.

ad § 98 bis einschließlich § 109.

Aufgrund der von den Postverwaltungen einzusendenden Erhebungen sollte die Reichszentralstelle die Verteilung der Kosten auf sämtliche korporativen Verbände, also auf Gefahrenklassen, Betriebsgenossenschaften, Betriebsverbände und auf alle extraordinären Genossenschaften, in Summa auf mehrere tausend von Genossenschaften, bewirken. Sofern Meinungsverschiedenheiten zwischen den Vorständen der Betriebsgenossenschaften oder Betriebsverbänden einerseits und der Reichszentralstelle andererseits wegen der von der letzteren festgestellten Berechnungen entstehen sollten, müssen dieselben vom Reichskanzler entschieden werden.

[ Druckseite 261 ]

Es ist von selbst einleuchtend, daß, wenn diese Bestimmungen zum Gesetze erhoben würden, ein Schreib- und Rechnungswerk notwendig werden würde, was kaum zu bewältigen wäre. Nimmt man die Bezirkseinteilung an, so würde ein großer Teil desselben überflüssig werden. [...]

ad § 118 bis einschließlich § 121.

Die Strafbestimmungen sind in Violom zu hart, da auch ein bloßes Versehen mit einer Geldstrafe bis zu 1000 Mark bestraft werden soll.

ad §§ 123 und 124.

Es wird notwendig sein und besonders hervorzuheben, daß das Haftpflichtgesetz für alle diejenigen Betriebe außer Kraft tritt, für welche durch das neue Versicherungsgesetz Vorsorge getroffen ist.7

Registerinformationen

Personen

  • Boetticher, Karl Heinrich von (1833─1907) Staatssekretär des Innern
  • Bosse, Robert (1832─1901) Direktor der II. Abteilung für wirtschaftliche Angelegenheiten im Reichsamt des Innern
  • Lohmann, Theodor (1831─1905) Geheimer Oberregierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Stein, Prof. Dr. Lorenz von (1815─1890) Staatswissenschaftler
  • Windthorst, Dr. Ludwig (1812─1891) Jurist und Politiker, MdR (Bundesstaatl.konst. Vereinigung/Zentrum
  • Wyneken, Dr. Ernst Friedrich (1840─1905) Philosoph und Theologe, Freund Theodor Lohmanns
  • 1BArchP 15.01 Nr. 384, fol. 65─71 mit Geschäftsvermerk von der Hand Bosses: in den Geschäftsgang. Bosse 14.10.82. Nachstehende Vorschläge sind für die Kommissionsverfolge des Zentralverbandes deutscher Industrieller, welche am 13. Oktober und die folgenden Tage stattgefunden haben, als Manuskript gedruckt und mir vertraulich mitgeteilt. H(err)n Magdeburg, H(err)n Lohmann. Dabei handelt es sich um eine wohl von George F. Beutner verfaßte Ausschußvorlage für den 29./30.10.1882, vgl. Verhandlungen, Mitteilungen und Berichte des Centralverbands deutscher Industrieller, Bd. 18, Berlin 1882, S. 1─37. Eine geringfügig geänderte Fassung ging am 3.12.1882 an den Reichstag (BArchP 07.01 Nr. 509, fol. 154─165) und wurde mit Schreiben vom 12.12. 1882 mit Kopfvermerk: Ergebenst überreicht vom Verfasser. Beutner, Regierungsrat a.D. von Beutner an Bismarck übersandt (ebd., fol. 166), auf dem Schreiben befindet sich der Vermerk Bismarcks: Ro(ttenburg) V(ortrag) mit Erledigungsvermerk f(ecit). Die in den Vorschlägen enthaltenen Hervorhebungen durch Fettdruck haben wir ebensowenig abgedruckt wie die Randstriche, deren Genese nicht geklärt ist. »
  • 2Ausgelassen sind Kommentierungen der §§ 15─32, 34─53, 60─81, 110, 113─117, die auch in der Regierungsvorlage für den Reichstag (Nr. 57) hier nicht abgedruckt sind. »
  • 3Abänderung von Beutner: sofern die ad § 1 vorgeschlagene Erweiterung angenommen wird »
  • 4Magdeburg (?): Haftpflicht »
  • 5Bosse: Wo steht das? Lohmann: Ist richtig, insofern sämtliche einer Gefahrenklasse angehörende Unternehmer die Gesamthaftung für den größeren Teil der Entschädigung trifft »
  • 6L.: Da sie in diesen Organen stets in der Minderheit sein würde, so hätte ihre Vertretung überall keine Bedeutung »
  • 7L.: d. h. doch nur, soweit seine Wirksamkeit sich auf die in den versicherten Betrieben beschäftigten Personen erstreckt. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 69, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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