II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 63

1882 Juni 12

Zeitschrift für Versicherungswesen Nr. 22

Teildruck

[Analyse und Kritik der materiell-rechtlichen Vorschriften der zweiten Unfallversicherungsvorlage]

[...] Der Arbeiter wird für jeden Unfall entschädigt, und zwar entweder durch die Krankenkasse, die er zu zwei Dritteln selbst erhält, oder durch die Unfall-Betriebsgenossenschaft. Ein Unterschied zwischen haftpflichtigen und nichthaftpflichtigen Fällen wird nicht gemacht. Sollte der Arbeitgeber oder dessen Bedienster den Unfall verschuldet haben, und glaubt der Arbeiter, daß ihm eine höhere Entschädigung als die durch das Unfallversicherungsgesetz festgestellte zukommen müsse, so kann er doch nur dann den Arbeitgeber verantwortlich machen, wenn derselbe den Unfall vorsätzlich herbeiführte (§ 117 des Gesetzes). Der Vorsatz, einen Arbeiter verunglücken zu lassen, ist kaum denkbar, mindestens ebenso selten wie das Verbrechen des Mordes; ─ das grobe Verschulden muß das Bewußtsein von der Gefahr der getroffenen Dispositionen voraussetzen lassen, und auch dies ist erfahrungsmäßig überaus selten. Überdies geht aus den Motiven zu der Regierungsvorlage hervor, daß die bisherige Haftpflicht ganz abgetan sein soll, denn es heißt daselbst ausdrücklich, daß den Arbeitern jeder aus einem Unfalle entstehende Schade, selbst in dem Falle des eigenen Verschuldens, eine zwar begrenzte aber vollkommen sichere Entschädigung gewährt werde, so erscheine es gerechtfertigt, alle Entschädigungsansprüche, welche in Veranlassung eines Unfalls gegen den Arbeiter nach bisherigem Recht erhoben werden könnten, aufzuheben.

Wie völlig verschieden ist diese Auffassung von der Haftpflicht gegen diejenige, welche vor etwa vier Jahren sich in der öffentlichen Diskussion kundgab, und sogar die Versicherung der haftpflichtigen Schäden für unstatthaft und unmoralisch erklärte! Die Schadloshaltung des Arbeiters aus dem eigenen Geldbeutel sei das einzige Korrektiv gegen leichtsinnige und unüberlegte Dispositionen, gegen die Nichtbefolgung der auf Unfallverhütung abzielenden Vorschriften; ─ die Versicherung führe zur Gewissenlosigkeit!

Wir haben allerdings dieser Auffassung niemals beipflichten können, denn das Geldopfer, welches den Arbeitgeber trifft, ist hinsichtlich seines Einflusses auf diesen so geringfügig, daß ihm nur teilweise eine heilsame Einwirkung auf die Verhütung von Unfällen beigemessen werden kann. Ein junger Dachdeckermeister in Mainz hatte zwei Gehilfen nicht gegen haftpflichtige Unfälle, sondern gegen Unfälle im allgemeinen mit je 1000 M versichert. Eines Tages stürzt einer derselben mit einem Teil des Gerüstes vom Dache, erleidet den Tod, und die Untersuchung ergibt, daß der Meister zum Zusammenfügen des Gerüstes Nägel verabfolgt hatte, welche kürzer waren, als nach “Handwerksgebrauch und Regel” notwendig. Das Gericht verurteilte den Meister, der Witwe des Verunglückten und ihren Kindern 8000 M Entschädigung zu zahlen. Der Meister besaß außer den 1000 M der Versicherungsgesellschaft [ Druckseite 243 ] die Mittel nicht; da wurde sein Häuschen verkauft, und als auch der Erlös nicht ausreichte, mußte er der Witwe Alimente bezahlen und so deren lebenslänglicher Schuldner werden. Der Mann war ruiniert. Derselbe Schädigungsposten würde vielleicht an anderer Stelle als Ausgabe durch die Bücher gegangen sein, ohne am Jahresschluß die Bilanz besonders zu alterieren.

Es liegt weder im wirtschaftlichen Interesse des Staates, noch entspricht es der Humanität, daß Gewerbetreibende durch die Haftpflicht ruiniert werden, und die Versicherung befreit den Betriebsunternehmer keineswegs von der Ersatzpflicht, sondern sie verteilt dieselbe nur in kleinere Opfer, welche alljährlich zu bringen sind; deshalb ist sie auch gerechtfertigt, und überdies dürften in Deutschland die Arbeitgeber selten sein, denen nicht, ganz abgesehen von der Ersatzpflicht, an der Verhütung von Unfällen in ihren Etablissements recht ernstlich gelegen wäre.

Daß aber Dritte, für einen Teil, und den größeren der Entschädigung der haftpflichtigen Unfälle die Prämien bezahlen, daß diese Dritten die Arbeiter selbst sind, in anderen Fällen der Staat, das widerspricht denn doch dem Rechtsgefühl, und es ist kaum faßlich, wie die Reichsregierung solche Einrichtungen in Vorschlag bringen konnte.

Nicht weniger als 95 % aller Unfälle, nämlich diejenigen, welche nicht über 13 Wochen Erwerbsunfähigkeit verursachen, entschädigt nach dem Plane der Regierung die Krankenkasse, deren Bedarf zu zwei Dritteln von den Arbeitern, zu einem Drittel von den Arbeitgebern gedeckt werden soll. Was Nachlässigkeit und Leichtsinn gegen einen oder mehrere Arbeiter verschuldeten, das verhüten zu zwei Dritteln die Arbeiter selbst, und ist die Entschädigung eine höhere, als die dreizehnwöchentliche Arbeitsunfähigkeit erheischt, so übernimmt der Staat die Deckung von 25 Prozent.

Gerade diese Sachlage beweist am deutlichsten, wie völlig verfehlt die Idee ist, die Krankenversicherung mit der Unfallversicherung zu verquicken. Die erstere ist ganz allein Sache der Arbeiter; sie bedürfen dazu keiner Beiträge des Arbeitgebers, aber ebenso kann die Entschädigung der Unfälle nicht von den Arbeitern ─ auch nicht zum kleinsten Teil ─ verlangt werden, und am wenigsten für haftpflichtige Fälle!

Man darf wohl hoffen, daß der Reichstag eine so augenfällige Verletzung jeden Rechtsgefühls nicht sanktionieren wird.

Wir haben an dieser Stelle noch einer Rechtsungleichheit zu gedenken, welche durch das Unfallversicherungsgesetz geschaffen würde und zwar niemandem Nachteil bringt, aber doch in Arbeiterkreisen Verstimmung hervorrufen muß. Auf die Eisenbahnbeamten und Arbeiter findet nämlich das Unfallversicherungsgesetz keine Anwendung; hier behält das Haftpflichtgesetz vom 7. Juni 1871 seine Wirkung, und da dessen § 1 bereits die erweiterte Haftpflicht für die Eisenbahnbediensteten einführt, d. h. die Entschädigung aller Unfälle, die nicht durch höhere Gewalt oder das eigene Verschulden des Verletzten verursacht wurden; da die Feststellung der Entschädigungshöhe ganz dem Richter anheimgegeben und keineswegs den vielfachen Beschränkungen unterworfen ist, welche das Unfallversicherungsgesetz aufstellt, so muß natürlich der Heizer vor dem Dampfkessel der Maschinenfabrik fragen, ob er denn ein schlechterer Staatsbürger sei als der Heizer auf der Lokomotive, da doch diesen das Gesetz so außerordentlich begünstige!

Auf die Dauer wird diese Rechtsungleichheit in keinem Falle bestehen bleiben können, und deshalb ist es u.E. zu vermeiden, sie überhaupt einzuführen.

[ Druckseite 244 ]

Registerinformationen

Personen

  • Boetticher, Karl Heinrich von (1833─1907) Staatssekretär des Innern
  • Crailsheim, Krafft Frhr. von (1841─1926) bayer. Außenminister
  • Lerchenfeld-Koefering, Hugo Graf von und zu (1843─1925) bayer. Gesandter in Berlin
  • Levetzow, Dr. Albert von (1827─1903) Landesdirektor, Reichstagspräsident, MdR (konservativ)

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 63, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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