II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 60

1882 Mai 17

Erlaß1 des Reichskanzlers Otto Fürst von Bismarck an den Staatssekretär des Innern Karl Heinrich von Boetticher

Ausfertigung

[Die Gesetzesvorlagen über Tabakmonopol und Arbeiterversicherung dürfen im Reichstag nicht verschleppt werden, allerdings besteht wenig Hoffnung auf Verabschiedung in der laufenden Sitzungsperiode]

Ich bin Euer Exzellenz für Ihre Erklärung gegen Verschleppung der Vorlagen2 sehr dankbar, denn wir müssen vor allen Dingen auch den leisesten Schein vermeiden, als ob die Regierung ihre Ziele mit vermindertem Eifer oder mit geringem Vertrauen auf die Zukunft verfolgte. Dies würde aber vermutet werden, sobald wir den parlamentarischen Verschleppungsversuchen konnivieren oder auch nur ausdrücklich zustimmen. Ich bin noch nicht gewiß, ob diese parlamentarischen Kunk-

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tatoren und ihre Manöver an sich uns schädlich oder nützlich sind. Wir haben keine Aussicht, das Monopol, und wenig Hoffnung, die Versicherungsgesetze in diesem Sommer durchzubringen, und für den Fall der Ablehnung ist die gründliche Diskussion der Prinzipien der Vorlagen für uns das zu Erstrebende, kurze Abmeuchlung dagegen, wie bei dem Verwendungsgesetze3, das zu Verhütende. Wird es nun möglich sein, im Laufe des Juni die gründliche Beratung beider Gegenstände herbeizuführen? An diese Frage knüpfen sich meine Zweifel, und ich wage kaum, dieselbe zu bejahen.

Die Monopolfrage4 liegt einigermaßen anders als die Arbeiterfrage, wegen der Sicherheit ihrer Ablehnung und wegen der Unmöglichkeit, ohne Auflösung dieselbe Frage demselben Reichstage ein halbes Jahr später wieder vorzulegen. Es wird vielleicht nötig sein, einstweilen in der Richtung der Erhöhung der Gewichtssteuer einen Umweg einzuschlagen. Ich glaube kaum, daß ich dafür werde stimmen können, Sr. Majestät auch in diesem Jahre die Einberufung des Reichstages vor dem Landtage zu empfehlen. Das Verfahren hat sich nicht bewährt, und wir bedürfen einer Beschlußnahme über das Verwendungsgesetz, bevor wir die Reichs-Tabaksaufgabe weiterführen. An der Richtigkeit dieser Auffassung könnte ich zweifelhaft werden, wenn ich sehe, daß die Gegner den Gedanken, die Tabaksfrage in permanenter Kommission in der Schwebe zu lassen, ebenfalls bekämpfen, und zwar noch lebhafter wie ich; aber diese Stellungnahme beruht wohl auf der irrtümlichen Voraussetzung, daß die Regierung durch ein reichstägliches Verdikt gegen das Monopol, welches im Juni erfolgen könnte, für immer ab und zur Ruhe verwiesen wäre. Die Gegner würden vielleicht ebenfalls für Verschleppung sein, wenn sie wüßten, daß die Operation ununterbrochen weitergeht, denn sie warten von Saison zu Saison auf den Tod des Kaisers und wünschen, daß nur bis dahin der Stand der Dinge sich nicht zum Vorteil der Krone verändere. Wir können aber unsere Operationen in der Richtung höherer Gewichtssteuer erst fortsetzen, wenn das Monopol abgelehnt ist und erleichtern unsere Aufgabe, wenn wir vorher die jetzt eludirte5 Diskussion der Bedürfnisfrage im Landtage erzwingen.

Es wird vielleicht nützlich sein, daß wir über unsere Entschließungen nach Ablehnung des Monopols in der Kommission schweigen, weil sonst den Gegnern die Verschleppung vielleicht nützlicher erscheint. Wir werden daher den Kommissionen gegenüber einstweilen auf der Forderung der Erledigung beider Vorlagen in diesem Sommer beharren können, wenn ich auch bezüglich des Arbeitergesetzes nur insoweit darauf bestehen möchte, als wir dessen Zukunft nicht gefährden.

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Die Stellung der Konservativen zu den preußischen Landtagswahlen ist eine leichtere, wenn das Monopol vorher abgelehnt ist, selbst für diejenigen, welche ihr Votum dafür abgegeben haben. Sie können alsdann dem Wähler gegenüber dieses Thema als nicht mehr in Frage stehend behandeln.

Registerinformationen

Personen

  • Crailsheim, Krafft Frhr. von (1841─1926) bayer. Außenminister
  • Lasker, Dr. Eduard (1829─1884) Jurist und Politiker, MdR (nationalliberal/Liberale Vereinigung)
  • Lerchenfeld-Koefering, Hugo Graf von und zu (1843─1925) bayer. Gesandter in Berlin
  • Lohmann, Theodor (1831─1905) Geheimer Oberregierungsrat im Reichsamt des Innern
  • 1BA Koblenz NL Boetticher Nr. 45, fol. 56─58 Rs., von der Hand des Grafen Wilhelm von Bismarck. In den Akten des Reichsamts des Innern ist dieser Erlaß nicht (mehr) überliefert; in den “Gesammelten Werken” (Bd. 6c, S. 256) ist er nach einer Abschrift in den Akten der Reichskanzlei abgedruckt. »
  • 2Vgl. Nr. 59 Anm. 6. »
  • 3Am 21.12.1880 hatte die Regierung dem preuß. Abgeordnetenhaus einen Gesetzentwurf über die Verwendung neuer, vom Reichstag erst noch zu bewilligender Steuern in Höhe von 110 Mio. Mark vorgelegt. Von diesen sollten dann 65 Mio. Mark an Preußen überwiesen werden ─ 50 Mio. davon wiederum sollten an die Gemeinden überwiesen und 15 Mio. zur Aufhebung der vier untersten Klassensteuerstufen dienen. Die Konservativen sprachen von einem Verschwendungsgesetz (Sten.Ber.RT, 14. LP, 2. Sess. 1880/81, Bd. 2, Nr. 98, S. 1387─1400). Der Entwurf wurde am 24. Februar 1881 an eine Kommission verwiesen (ebd., S. 1564), wo er versandete. »
  • 4Vgl. dazu den Erlaß Bismarcks an v. Boetticher vom 8.5.1882 (Gesammelte Werke, Bd. 6c, S. 255). »
  • 5eludiren: spielend abwenden, vereiteln, umgehen »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 60, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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