II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 58

1882 Mai 11

Die Tribüne1 Nr. 237

Teildruck

[Kritik der zweiten Unfallversicherungsvorlage]

An dem neuen Entwurf des Unfallversicherungsgesetzes ist es bedeutungsvoll, daß derselbe den von dem Reichskanzler gegenüber den vorjährigen Beschlüssen der konservativ-klerikalen Majorität als unerschütterlich bezeichneten Grundsatz, daß der Arbeitnehmer mit Versicherungsbeiträgen nicht belastet werden dürfe, bedingungslos preisgibt. Zur Unfallversicherung selbst wird freilich der Arbeitnehmer nicht herangezogen, aber da der Unfallversicherung nur diejenigen Arbeiter zur Last fallen, deren Arbeitsunfähigkeit länger als 13 Wochen dauert, die übrigen, nach den im Volkswirtschaftsrat aufgestellten Berechnungen 95 bis 99 % sämtlicher Unfälle, aber den Krankenkassen zur Last fallen, zu denen die Arbeiter zwei Drittel der Beiträge zahlen sollen, so bemühen sich die Motive vergeblich, den Nachweis zu führen, daß die Arbeiter durch das neue Gesetz nicht ungünstiger gestellt werden als durch die vorjährige Vorlage. Daß diese Belastung der Arbeiter nur eine scheinbare sei, weil die Arbeitgeber nach der bezüglichen Vorlage in Zukunft ein Drittel der Beiträge zu allen Ausgaben der Krankenkasse leisten sollen, ist eine mehr kühne als wahre Behauptung. Die Motive berechnen allerdings, daß die Gesamtbelastung der Krankenkasse infolge der 13wöchigen Karenzfrist sich nur auf 2 732 500 M belaufe, während die Gesamtlast der Unfallversicherungsverbände nach Eintritt des Beharrungszustandes, also erst nach 15 bis 20 Jahren,

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13 796 872 M betragen würde, so daß die Arbeiter nur 11 % der Beiträge zu leisten hätten. Dieser Berechnung fehlt indessen die statistische Unterlage, da bei den im August ─ November 1881 angestellten Erhebungen die 13wöchige Karenzzeit noch nicht in Frage stand. Aber selbst wenn man die Berechnung vorläufig akzeptiert, bleibt zu berücksichtigen, daß das Reich zu den übrigen 89 Prozent der Beiträge den vierten Teil leisten soll und daß der Reichsbeitrag durch indirekte Steuern beschafft wird, welche auch nach der Ansicht des hochkonservativen “Reichsboten” “die Leistungsfähigkeit der niederen Volksklassen vermindern”, d. h. vorzugsweise von diesen getragen werden. Der Reichskanzler ist also jetzt bereit, auch diejenigen Arbeiter zu den Kosten der Versicherung herbeizuziehen, welche nur das zum Lebensunterhalt Unentbehrliche verdienen. Der von den Liberalen in der letzten Session des Reichstags eingebrachte Gesetzentwurf hat an dem Grundsatz, den der Reichskanzler jetzt aufgibt, festgehalten, daß die Kosten der Unfallversicherung ausschließlich dem Betriebsunternehmer zur Last fallen müssen.2

Registerinformationen

Personen

  • Boetticher, Karl Heinrich von (1833─1907) Staatssekretär des Innern
  • Hirsch, Dr. Max (1832─1905) Jurist und Gewerkvereinsführer, MdR (Fortschritt)
  • 1Die Tribüne war seit 1881 das Organ der “Liberalen Vereinigung”, Verleger des in Form einer Aktiengesellschaft (Hauptaktionär: Dr. Ludwig Bamberger) geführten Blattes war Bernhard Brigl, Chefredakteur der Jurist Dr. Franz Liepmann. »
  • 2An diesem Tage war die erste Beratung der entsprechenden Gesetzentwürfe aufgenommen worden. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 58, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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