II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 49

1882 März 28

Bericht1 des Staatssekretärs des Innern Karl Heinrich von Boetticher an den Reichskanzler Otto Fürst von Bismarck

Ausfertigung mit Randbemerkungen Bismarcks

[Auskunft über Unfallgeschehen (Zahl, Folgen), Gefahrenverhältnisse in den Industriezweigen, Belastung der Unfallversicherung für Betriebe und Reich sowie der Krankenkassen bzw. Arbeiter, gesetzliche Unfallversicherung kann milder vorgehen als private Unfallversicherung, mitgeteilte Zahlen werden “die Opposition völlig entwaffnen”]

Eurer Durchlaucht beehre ich mich, im Anschlusse an meinen Bericht vom 3. d. M., die Armenstatistik betreffend2, gehorsamst anzuzeigen, daß die Resultate

[ Druckseite 184 ]

der für die vier Monate August bis November 1881 erhobenen Unfallstatistik jetzt ebenfalls vollständig vorliegen.3

Die Aufgaben, deren Lösung durch diese Statistik herbeigeführt oder vorbereitet werden sollte, sind die folgenden:

1. die Gewinnung eines zuverlässigen Materials in betreff der Zahl der Unfälle und ihrer Folgen: Tod, Invalidität, vorübergehende Erwerbsunfähigkeit;

2. die Gewinnung eines Einblicks in die Gefährlichkeit der verschiedenen Betriebe;

3. die Berechnung der aus der Unfallversicherung resultierenden Belastung der Betriebe beziehungsweise des Reichs;

4. die Ermittlung des Umfanges, welchen die Unfallversicherung schon jetzt gewonnen hat, und, soweit möglich, die Beantwortung der Frage, ob die Versicherung gegen Unfall einen nachweisbaren Einfluß auf die Zahl der zur Anmeldung gelangenden Unfälle ausübt.

In allen vier Beziehungen entspricht die Statistik, deren Erhebung von den Aufnahmebehörden mit ersichtlichem Eifer betrieben und seitens einer ganzen Reihe von industriellen, kommerziellen und technischen Vereinen und Verbänden in anerkennenswerter Weise gefördert ist, meines Erachtens den billigerweise an sie zu stellenden Anforderungen.

Indem ich mich beehre, Eurer Durchlaucht das gesamte Material mit der Bitte um hochgeneigte Rückgabe für die Zwecke weiterer Verarbeitung, insbesondere der Ermittlung der Gefahrenklassen, gehorsamst zu unterbreiten, und zwar

a) die Generalübersicht mit Unterscheidung der Gewerbebetriebe nach Gruppen, Klassen und Ordnungen und der Art des Versicherungsverhältnisses nach sechs auf dem Titelblatte bezeichneten Abstufungen;4

b) die Wiederholung des Gesamtergebnisses dieser Generalübersicht für die ganzen Gewerbegruppen nach den einzelnen Versicherungsarten und überhaupt;

c) der Spezialnachweisungen nach Staaten und Landesteilen für die einzelnen Ordnungen, beziehungsweise Klassen und Gruppen der Gewerbebetriebe, ohne [ Druckseite 185 ] Unterscheidung der Versicherungsart ─ wichtig für die Erörterung der Frage der Bildung korporativer Versicherungsverbände ─;

d) eine Übersicht, welche nach Gruppen, Klassen und Ordnungen der Gewerbebetriebe die Berechnungen der vorgekommenen Unfälle auf je 100 000 Arbeiter (männliche und weibliche zusammen) enthält;

e) die Nachweisung über das Alter der beschäftigten männlichen und weiblichen Arbeiter nach Gruppen, Klassen und Ordnungen der Gewerbebetriebe;

gestatte ich mir, an der Hand dieser Nachweisungen das Nachstehende gehorsamst hervorzuheben.

Zu 1.

Die Erhebungen haben sich, abgesehen von 1246 landwirtschaftlichen Betrieben mit 9499 Arbeitern und 211 hauswirtschaftlichen Betrieben mit 1931 Arbeitern auf 93 554 gewerbliche Betriebe mit 1 615 253 männlichen und 342 295 weiblichen, zusammen 1 957 548 Arbeitern bezogen.5 Von diesen verstarben in den angegebenen vier Monaten infolge Unfalls

651

männliche und

11

weibliche
zusammen

662

Dauernd erwerbsunfähig wurden:

a) gänzlich

122

männliche

1

weibliche
zusammen

123

123

b) teilweise

410

männliche

27

weibliche
zusammen

437

437

560

560

und vorübergehend erwerbsunfähig:

27 644

männliche und

708

weibliche
zusammen

28 352

28 352

Summe aller Unfälle

29 574

Aufs Jahr berechnet, mit 3 multipliziert würden diese Zahlen ergeben:

1986

Unfälle mit tödlichem Ausgang,

1680

Unfälle mit nachfolgender dauernder Erwerbsunfähigkeit,

85 056

Unfälle mit nachfolgender vorübergehender Erwerbsunfähigkeit.
Summe

88 722

Unfälle, d.i. auf je 1000 Betriebsbeamte und Arbeiter 45,3 Unfälle.
[ Druckseite 186 ]

Wird zunächst die Beteiligung der beiden Geschlechter an diesen Unfällen ins Auge gefaßt, so ergibt sich, daß sich ereigneten bei den

männlichen Arbeitern weiblichen Arbeitern

651

Unfälle mit tödlichem Ausgang

11

532

Unfälle mit folgender dauernder Erwerbsunfähigkeit

28

27 644

Unfälle mit folgender vorübergehender Erwerbsunfähigkeit

708

Summe

28 827

747

Von der Gesamtzahl der Arbeiter waren 82,5 Prozent männlich, 17,5 Prozent weiblich; von der Gesamtzahl der Unfälle erlitten die männlichen Arbeiter 97,5 Prozent, die weiblichen 2,5 Prozent. Auf das Jahr berechnet kamen auf je

1000 männliche Arbeiter

53,5

Unfälle,
1000 weibliche Arbeiter

6,5

Unfälle;

das weibliche Geschlecht ist somit auf den Kopf berechnet 8,2 mal weniger an den Unfällen beteiligt gewesen als das männliche.

Aufs Jahr berechnet kamen im einzelnen:

auf 10 000 männliche Arbeiter: auf 10 000 weibliche Arbeiter:
a)

12

Unfälle mit tödlichem Ausgang

1

b)

10

Unfälle mit folgender dauernder Erwerbsunfähigkeit

2

c)

513

Unfälle mit folgender vorübergehender Erwerbsunfähigkeit

62

Es verhielt sich also die Beteiligung des weiblichen Geschlechts an den Unfällen zu der des männlichen:

in den Fällen mit tödlichem Ausgang (unter a) wie 1 zu 12,

in den Fällen dauernder Invalidität (unter b) wie 1 zu 5,

in den Fällen vorübergehender Erwerbsunfähigkeit (unter c) wie 1 zu 8.

Von der Gesamtheit aller Unfälle bildeten:

die Fälle unter

a)

2,2

Prozent
" " "

b)

1,9

Prozent
" " "

c)

95,9

Prozent

Summe

100

Prozent

lauter Momente, welche von höchster Bedeutung für die Berechnung der nach dem Lohne der weiblichen Arbeiter etwa zu bemessenden Unfallversicherungsprämie sind, und welche in dieser Bedeutung noch gesteigert werden durch den Umstand, daß tödlich verunglückte Arbeiterinnen nur in seltenen Fällen eine versorgungsbedürftige Familie hinterlassen.

[ Druckseite 187 ]

Werden die Fälle unter c) ─ ohne Trennung der Geschlechter ─ weiter unterschieden, so ergeben sich:

Krankentage
1.

16 139

Unfälle mit Erwerbsunfähigkeit von 1 bis 14 Tagen, mit

126 340

2.

6 532

Unfälle mit Erwerbsunfähigkeit von 15 bis 28 Tagen mit

135 606

3.

5 681

Unfälle mit Erwerbsunfähigkeit von mehr als 28 Tagen mit

287 913

Summe

28 352

Unfälle mit oder pro Jahr

549 859

85 056

Unfälle mit

1 649 577

Von den Unfällen unter 1, 2 und 3 vorstehend machten

die Fälle unter 1. 56,9 Prozent aus
" " " 2. 23,1 Prozent und
" " " 3. 20,0 Prozent

während die Krankentage sich verteilten auf

die Fälle unter 1.

mit

23,0 Prozent,
" " " 2.

"

24,7 Prozent
" " " 3.

"

52,3 Prozent

also dort eine fallende, hier eine steigende Zahlenreihe.

Zu einer weiteren Aussonderung der Unfälle mit Erwerbsunfähigkeit von mehr als 4 bis zu 13 Wochen und von über 13 Wochen ist das Material nicht geeignet. Da die Erhebungsperiode sich auf nur 4 Monate beschränkte und beschränken mußte, hätte auf diese Unterscheidungen eine Frage nicht gerichtet werden können, ohne für die in die letzten Monate fallenden Unfälle die Schätzung über Gebühr zu erschweren und deshalb auf Widerstand zu stoßen. Man begnügte sich daher in diesen Fällen mit einer allgemeinen Schätzung der Krankheitsdauer bei denjenigen Unfällen, welche eine Erwerbsunfähigkeit von mehr als 4 Wochen zur Folge hatten. Vorstehend sind für die hierher gehörenden 5681 Unfälle 287 913 Krankentage, d.i. 51 Tage pro Unfall angegeben; an der Richtigkeit dieser Zahlen zu zweifeln, liegt ein besonderer Grund nicht vor.

Die oben berechneten 1 649 577 Krankentage würden also die Gesamtheit aller auf Unfall zurückzuführenden Krankentage der vorübergehend erwerbsunfähig Gewordenen umfassen. Sie bilden, da sie auch die auf eine längere als 13wöchige Erwerbsunfähigkeit geschätzten Unfälle, welche nicht zur Invalididät führten, begreifen, das Maximum dessen, was nach dem neuesten Plane6 den Hilfskassen zur Last fallen kann. Allerdings fehlen unter jenen 1 649 577 Krankentagen diejenigen Krankentage, welche auf die infolge Unfalls invalide Gewordenen innerhalb der ersten 13 Wochen nach dem Unfall zu rechnen sind. Dafür bilden indes die mit in [ Druckseite 188 ] Anrechnung gebrachten Krankentage, welche über die 13 Wochen hinausgehen, ohne daß Invalididät die Folge des Unfalls wird, ein annähernd gleichwertiges Äquivalent. Wird nun der Krankentag ─ um diesen Punkt gleich hier mitzuerledigen ─ auf den hohen Betrag von 1 Mark 50 Pfennig geschätzt, so würde bei einem Beitrag von zwei Dritteln seitens der Arbeiter zu den Hilfskassen eine Arbeiterbelastung von höchstens 1 649 577 M durch die Übernahme der Fürsorge für die Unfallverletzten bis zur Dauer von 13 Wochen entstehen. Dabei bleibt zu berücksichtigen, daß ein sehr geringer Teil aller Unfälle die Haftpflicht begründet, und daß die Betriebsbesitzer, indem sie zu diesen 1 649 577 M ihrerseits 50 Prozent beisteuern, ungleich mehr tragen, als nach dem Haftpflichtgesetz ihnen obliegen würde.

In Lohnprozenten ausgedrückt machen jene 1 649 577 M bei rund 2 Millionen Arbeitern und 750 M Lohn 1,1 Promille des verdienten Lohnes, oder 83 Pfennig auf 705 M Lohn, resp. auf den Kopf, d[as] i[st] viel weniger, als jetzt manche Arbeiter in ihrer Eigenschaft als Mitglieder einer Hilfskasse zu ihrer Kollektivunfallversicherung beitragen.

Zu 2.

Die große Verschiedenheit des Grades der Gefahr in den einzelnen Gewerbegruppen usw. erhellt des näheren aus den Anlagen. Beinahe die Hälfte aller Todesfälle und Unfälle überhaupt kommt auf den Bergbau, das Hütten- und Salinenwesen, während die Zahl der in diesen Betrieben beschäftigten Arbeiter nicht den vierten Teil der gesamten Arbeiter erreicht, auf welche die Erhebungen sich bezogen. Man hatte dort bei

450 449 Arbeitern

307

Unfälle mit tödlichem Ausgang folgender dauernder Erwerbsunfähigkeit

182

" "
und

12 809

" " folgender vorübergehender Erwerbsunfähigkeit
Summe

13 298

Unfälle,

wogegen die Textilindustrie, welche das nächstgrößte Arbeiterkontingent stellt, bei

384 278 Arbeitern nur

29

Unfälle mit tödlichem Ausgang, folgender dauernder Erwerbsunfähigkeit, folgender vorübergehender Erwerbsunfähigkeit

50

" "

1376

" "
Summe

1455

Unfälle aufweist

In jenem Falle kamen 29,5 Unfälle auf je 1000 Arbeiter, in diesem Falle nur 3,8 Unfälle auf je 1000 Arbeiter. Die mitanliegende Prozentberechnung gibt hierüber weitere Auskunft.

[ Druckseite 189 ]

Hier ist nun allerdings der Punkt, wo die Statistik, je mehr man sich von den großen Zahlen entfernt, um so weniger brauchbar wird. Es liegt dies in der Natur der Sache. Kamen in einem Gewerbezweige, der im ganzen nur wenige hundert Arbeiter beschäftigt (z. B. in der Asphaltindustrie mit 289 Arbeitern) in den Erhebungsmonaten zufällig ein paar erhebliche Unfälle vor, so wird der Unfallkoeffizient für diesen Gewerbezweig unverhältnismäßig stark in die Höhe geschnellt, wogegen andere, in Wirklichkeit viel gefährlichere Betriebe unverdient günstig zu stehen kommen können. Bei der Verwertung der Statistik für die Ermittlung der Gefahrenklassen werden diese vom Durchschnitt sich allzusehr entfernenden Zahlen mit Hilfe der Wahrscheinlichkeitsrechnung annähernd auf ihren wirklichen Wert zurückzuführen sein. Als ferneres Korrektiv steht neben den Statistiken und Tarifen mehrerer anderer Unfallversicherungsgesellschaften ein anscheinend sehr brauchbares, auf eine zehnjährige Beobachtungszeit und mehrere hunderttausend Arbeiter sich beziehendes statistisches Material der “Allgemeinen Unfallversicherungsbank” in Leipzig sowie der mit derselben verbundenen “Deutschen Unfallversicherungsgenossenschaft” zur Verfügung, welches von der königlich sächsischen Regierung auf diesseitiges Ersuchen hierher mitgeteilt ist.

Daß in der Tat die vorliegende Reichsstatistik in dem Rahmen größerer Zahlen auf Zuverlässigkeit Anspruch machen kann, zeigen die folgenden Beispiele:

Wie bereits angegeben7, beträgt beim Bergbau, Salinen- und Hüttenwesen die Zahl der in den vier Monaten August bis November 1881 infolge Unfalls Verstorbenen 307. Aufs Jahr berechnet macht dies auf 10 000 Arbeiter 20,44, während ausweislich der “Zeitschrift für das Berg-, Hütten- und Salinenwesen”, Band 29 de 1881, Statistische Lieferung Seite 84, auf den unter Aufsicht der Bergbehörde stehenden Bergwerke und Aufbereitungsanstalten in Preußen im Durchschnitt der Jahre

1861

bis 1866 21,67

1867

bis 1880 24,65

von je 10 000 Arbeitern mit tödlichem Ausgange verunglückt sind. Würden in der vorliegenden Reichsstatistik ebenfalls nur die Bergwerke und Aufbereitungsanstalten in Ansatz gebracht, so ergäbe sich für die tödlich Verunglückten die Zahl 26 auf 10 000, welcher die Zahl 25 ausweislich jener Zeitschrift für die preußischen Werke im Jahre 1880 gegenübersteht: gewiß eine bemerkenswerte Übereinstimmung.

Die Zahl der durch Unfall überhaupt verletzten, vorübergehend erwerbsunfähig gewordenen Berg-, Salinen- und Hüttenarbeiter beträgt 12 809, d.i. 853 pro Jahr und 10 000 Arbeiter. Auch diese Zahl stimmt sehr gut mit einer anderweitig zuverlässig ermittelten, nämlich derjenigen, welche sich ausweislich der eben bezeichneten Zeitschrift, Band 28 Seite K 76, für das Jahr 1879 bei 62 preußischen Knappschaftsvereinen herausgestellt hat. Diese beträgt 812 auf 10 000 Arbeiter. Daß die letztere etwas niedriger ist, als die Zahl der Reichsstatistik, dürfte sich zur Genüge einmal aus der von kompetentester Seite bezeugten größeren Vollständigkeit der Reichsstatistik, dann aber auch daraus erklären, daß gerade die Hüttenwerke und Hochöfen sich durch eine große Anzahl nicht tödlicher Unfälle (1272 auf 10 000 Arbeiter) auszeichnen. Zu den Knappschaftsvereinen gehören aber relativ weniger Hüttenwerke und Hochöfen als die Reichsstatistik nachweist.

[ Druckseite 190 ]

Nach der Zahl der auf 100 000 Arbeiter vorgekommenen tödlichen Unfälle geordnet, ergibt sich für die Hauptindustriegruppen die nachstehende Reihenfolge, wobei die Zahlen die auf das Jahr berechneten Unfälle pro 100 000 Arbeiter angeben:

Bergbau, Hütten- und Salinenwesen

205

Speziell: Steinkohlenbergwerke

307

Braunkohlen- "

261

Eisenerzgruben

170

Salzbergwerke

166

Sonstige Erzgruben

124

Salinen

86

Hochöfen, Stahlhütten, Eisenwerke

84

Silber- etc. Hütten

64

Baugewerbe

182

Chemische Industrie

164

Nahrungs- und Genußmittel
(d.i. u.a. Brennereien, Mühlen,
Stärke- und Zuckerfabriken etc.)

128

Industrie der Steine und Erden

107

" " Heiz- und Leuchtstoffe

96

" " Holz- und Schnitzstoffe (Kreissägen etc.)

87

Maschinen, Werkzeuge etc.

40

Metallverarbeitung

38

Papier und Leder

36

Textilindustrie

23

Bekleidung und Reinigung

20

Polygraphische Gewerbe

98

In gleicher Weise nach der Zahl der Invaliditätsfälle (gänzliche und teilweise zusammen) geordnet, gestaltet sich die Reihe folgendermaßen:

Baugewerbe

162

Industrie der Holz- und Schnitzstoffe

133

Bergbau, Hütten- und Salinenwesen

121

Industrie der Heiz- und Leuchtstoffe

120

Maschinen, Werkzeuge pp.

97

Nahrungs- und Genußmittel

89

Industrie der Steine und Erden

83

Papier und Leder

69

Chemische Industrie

64

Metallverarbeitung

53

Textilindustrie

39

Bekleidung und Reinigung

20

Polygraphische Gewerbe

17

[ Druckseite 191 ]

In beiden Fällen ist die Gruppe der künstlerischen Betriebe für gewerbliche Zwecke außer Betracht gelassen. Nur 718 Arbeiter beschäftigend, hat dieselbe keinen tödlichen Unfall, dagegen die meisten Invaliditätsfälle aufzuweisen.

Von besonderem Interesse dürfte auch die letzte Spalte der “Anlage 4” sein, welche angibt, wie viele Krankentage infolge Unfalls auf je 100 000 Arbeiter in den verschiedenen Gewerbezweigen kommen.

Zu 3.

ist zunächst hervorzuheben, daß ein Invaliditätsfall die Unfallversicherungsanstalt reichlich 3mal stärker belastet als ein Unfall mit tödlichem Ausgange. Die lebensgefährlichsten Betriebe an sich (z. B. Fabrikation von Explosivstoffen) sind mithin noch nicht die ungünstigsten für die Anstalt, und die sogenannten “Gefahrenklassen” drücken keineswegs die größere oder geringere Lebensgefährlichkeit der Betriebe aus. Es dürfen daher diese Gefahrenklassen nicht ausschließlich und nicht einmal vorzugsweise nach Maßgabe der Lebensgefährlichkeit gebildet werden.

Für die Berechnung der aus der Unfallversicherung resultierenden Belastung der Betriebe bzw. des Reichs gibt die Statistik ein vortreffliches bisher gänzlich fehlendes Material an die Hand, indem sie nachweist die Zahl der Unfälle mit tödlichem Ausgang, die Zahl der Invaliditätsfälle, das Alter der beschäftigten Arbeiter.

Um diese Belastung in der einfachsten Weise zu berechnen, empfiehlt es sich, die erforderlichen Deckungskapitale für die zu gewährenden Renten in Ansatz zu bringen. Man kommt damit zu demselben Ziele, welches erreicht wird, wenn man von Jahr zu Jahr bis zum Beharrungszustande die steigenden Renten berechnet und dann den Durchschnitt derselben zieht.

Bei Annahme eines Durchschnittslohnes von 750 M ─ wird der Lohn niedriger angesetzt, so ermäßigen sich in gleichem Maße die Renten, die prozentuale Lohnbelastung bleibt also dieselbe ─ würde die zu 2/3 des Lohnes angenommene Invaliditätsrente 750 x 2/3 = 500 M betragen, d.i. für 1680, rund 1700 Invaliditätsfälle (die teilweise Invalidität für die Zwecke dieser Rechnung gleich der vollen behandelt) 1700 x 500 = 850 000 M Als Deckungskapital für eine Invaliditätsrente kann nach einer Mitteilung des Rechnungsrats Behm9, welcher aufgrund der anliegenden Alters- etc. Tabellen noch eine genauere Berechnung anstellen wird, der 12 1/2fache Betrag der Rente angenommen werden, so daß für die 1700 Fälle 850 000 x 12 1/2 = 10 625 000 M anzusetzen wären.

Die Belastung, welche ein tödlicher Unfall für die Versicherungsanstalt herbeifuhrt, verhält sich (ebenfalls nach Behm) zu der aus einem Invaliditätsfalle herrührenden Belastung wie 323 zu 1010. Die 1986, rund 2000 tödlichen Unfälle würden also ein Deckungskapital erheischen von 2000 x 500 x 323 : 1010 x 12 1/2

= rund

3 997 500

Mark, hierzu vorstehende

10 625 000

Mark,
macht

14 622 500

Mark Deckungskapital

für die tödlichen und für die zur Invalidität führenden Unfälle, oder rund 15 Millionen Mark. Bei 1 957 548, abgerundet 2 Millionen Arbeitern á 750 M Lohn (d.i.

[ Druckseite 192 ]

1 500 Millionen Mark Lohn) würden jene 15 Millionen Mark 1 Prozent vom Lohne ergeben.

Hierbei ist freilich diejenige Belastung, welche auf die Fälle einer über 13 Wochen hinausgehenden Erwerbsunfähigkeit, die nicht schon als Invalidität anzusehen ist, entfällt, nicht berücksichtigt. Dagegen sind alle Invaliditätsfälle voll berechnet, was schwerer wiegt. Nach der vorhin erwähnten Statistik der Leipziger Unfallversicherungsanstalten bilden die Fälle anerkannter gänzlicher Invalidität einen sehr geringen Bruchteil der Invaliditätsfälle, indem nur der Verlust beider Augen, beider Arme, beider Beine, eines Armes und gleichzeitig eines Beines usw. als völlige Invalidität angesehen wird. Bei einer Privatversicherung, deren Prämiensätze im Verhältnisse zu ihren Gegenleistungen stehen, können so strenge Grundsätze gelten. Tritt das Unfallversicherungsgesetz in Kraft, so wird viel milder zu verfahren sein, und deshalb sind, um sicher zu gehen, vorstehend alle Invaliditätsfalle als voll behandelt, wie denn auch die Knappschaftsvereine ein ganz anderes Resultat aufweisen als die Leipziger Anstalten. ─ Übrigens liegt hierin ein weiteres Moment, welches mit sicheren Zahlen für den Segen der reichsgesetzlichen Regelung der Angelegenheit spricht.

Trägt von den vorhin berechneten alljährlich aufzubringenden Deckungskapitalien von 15 Millionen M. das Reich 1/3, die Industrie 2/3, so entfallen auf jenes 5 Millionen, auf diese 10 Millionen M., d.i. 2/3 Prozent der Löhne. Würden, wie von anderer Seite vorgeschlagen wird, die Arbeiter statt des Reiches mit 1/3 herangezogen, so hätten sie die 5 Millionen zu leisten.

Zu 1, oben wurde berechnet, daß bei der Übernahme der 13 Wochen auf die Hilfskassen die Arbeiter mit 1 649 577 M herangezogen werden würden. Zieht man nun nach jenem anderen Vorschlage die Arbeiter für alle Unfälle von Anfang bis zum Ende mit einem Drittel heran, so würden sie statt jener 1 649 577 M (welche 2/3 repräsentieren) nur 1 649 577 : 2 = 824 788 1/2 M zu tragen haben; dazu kämen aber jene 5 Millionen Mark, macht zusammen 5 824 788 1/2 M, ─ mit anderen Worten jener andere Vorschlag belastet die Arbeiter 3 1/2 mal stärker als der hier angenommene Kontributionsfuß. Hat dieser den entschiedenen Vorteil, die Unfallversicherung derart zu erleichtern, daß die Ausführbarkeit Bedenken nicht unterliegt, so dürften jene nunmehr ermittelten Zahlen die Opposition völlig entwaffnen. Im einzelnen wird die Rechnung sich noch ändern; im großen und ganzen sind die Zahlen aber, namentlich in ihrem Verhältnisse zueinander, als feststehend zu betrachten.

Die Gewinnung dieser sicheren Grundlage allein schon lohnt vollständig die auf die Erhebung der Unfallstatistik verwandte Mühe und Arbeit.

Zu 4.

Von den

1 957 548

Arbeitern waren

548 503

oder

28,0 %

gegen alle Unfälle versichert,

309 730

oder

15,8 %

nur gegen die haftpflichtigen Unfälle versichert);

bei

37 919

"

1,9 %

findet sich die Angabe, daß ein Teil der Arbeiter(Maschinisten, Heizer pp.) versichert sei,
[ Druckseite 193 ]

bei

132 706

"

6,8 %

daß sie wenigstens an Knappschaftskassen
pp. beteiligt sind, während

845 768

"

43,3 %

in keiner Weise versichert waren und

für

82 922

"

4,2 %

die Angaben fehlen.

Indem die Statistik somit auf der einen Seite nachweist, daß die Unfallversicherung bereits tiefe Wurzeln in den beteiligten Kreisen geschlagen hat, und daß der Boden für eine abschließende gesetzliche Regelung der Materie durchaus vorbereitet ist, macht sie auf der anderen Seite es klar, wie viel noch zu tun übrig geblieben und wie dringend notwendig diese gesetzliche Regelung ist.

aWas schließlich die Frage betrifft, ob die Versicherung gegen Unfall einen nachweisbaren Einfluß auf die Zahl der zur Anmeldung gelangenden Unfälle ausübt?, so ergeben in dieser Beziehung die statistischen Ermittlungen folgendes:a

Auf je 100 000 Arbeiter (männlich und weiblich zusammen) kamen in den vier Beobachtungsmonaten

I. Todesfälle II. Invaliditätsfälle III. sonstige Unfälle Zahl der
1. gänzlich 2. teilweise; 1. Un- fälle 2. Kranken- tage
a) wenn gar nicht versichert 35,5 5,9 14,5 1131,6 21 224,4
b) wenn gegen alle Unfälle versichert 32,3 6,0 32,6 1854,9 38 516,8

Bei weiterer Unterscheidung der unter III bezeichneten Unfälle kommen auf je 100 000 Arbeiter (männlich und weiblich zusammen) bei einer Erwerbsunfähigkeit von

1 bis 14 Tagen 15 bis 28 Tagen mehr als 28 Tagen
1. Unfälle 2. Kranken- tage 1. Unfälle 2. Kranken- tage 1. Unfälle 2. Kranken- tage
a) wenn gar nicht versichert 666,3 4950,9 250,1 5199,1 215,3 10 074,4
b) wenn gegen alle Unfälle versichert 975,4 8236,4 462,2 9592,5 417,3 20 687,9

Diese Zahlen ergeben nun allerdings, abgesehen von den naturgemäß nicht in Betracht kommenden tödlichen Unfällen und den Fällen gänzlicher Invalidität (Verlust beider Augen etc., wie oben angegeben) durchweg eine ganz erhebliche Steigerung der Zahl der Unfälle, wenn die Arbeiter gegen alle Unfälle versichert sind. aWenn auch diese Wahrnehmung zum Teil aus dem Mangel eines Interesses sich erklärt, welches bei Unfällen, für die es ohne Versicherung keine Fürsorge gibt, an deren Konstatierung obwaltet, so ist doch andererseits wohl nicht zu bezweifelna, daß Simulation und Übertreibung von aseiten der Versicherten hierbei gleichfallsa eine Rolle spielen. Wenn dem aber so ist, so zeigt die Statistik, daß es

[ Druckseite 194 ]

wohlgetan ist, die Fürsorge für die oft erwähnten 13 Wochen in das Bereich und unter die Kontrolle der Hilfskassen zu stellen.10

Registerinformationen

Personen

  • Becker, Dr. Karl (1823─1896) Direktor d. Statistischen Reichsamts
  • Behm, Gustav (1821─1906) Geheimer Sekretär und Kalkulator im preuß. Handelsministerium
  • Bismarck, Wilhelm Graf von (1852─1901) Regierungsrat in der Reichskanzlei
  • Boetticher, Karl Heinrich von (1833─1907) Staatssekretär des Innern
  • 1BArchP 07.01 Nr. 528, fol. 84─106 Rs.; Entwurf von Bödiker: ebd., 15.01 Nr. 407, fol. 182─196 Rs. mit geringfügigen Abänderungen von Bosse und durch a-a gekennzeichneten abändernden Ergänzungen durch Eck sowie Geschäftsvermerk: gelesen: Bosse 25.3., Eck 27.3. »
  • 2BArchP 15.01 Nr. 407, fol. 81─88. In diesem (ebenfalls von Tonio Bödiker entworfenen) Bericht hatte von Boetticher mitgeteilt, daß die Zusammenstellung der Armenstatistik zwar eifrig gefördert wird, indes bis heute noch nichts abgeschlossen werden konnte, da die Nachrichten für den Regierungsbezirk Posen, welche zur Berichtigung und Ergänzung zurückgesandt werden mußten, noch nicht an mich zurückgelangt sind. Daß die Statistik eine Fülle von bedeutsamen wirtschaftlichen Verhältnissen klarlegen wird, für deren Beurteilung es bisher an jeder zahlenmäßigen Unterlage fehlte, darf ich schon jetzt als feststehend bezeichnen. Im übrigen hatte er das zum Anlaß genommen zu berichten, daß auch die Unfallstatistik (vgl. Nr. 6) in voller Bearbeitung begriffen ist und anscheinend ein recht befriedigendes Resultat liefern wird. Dieses war dann anhand der Ergebnisse für das Berg-, Hütten- und Salinenwesen ausgeführt worden. Der durchgeführte Vergleich mit der aus den zuverlässigsten Quellen geschöpften preußischen Statistik zeige dabei zur Evidenz, daß bei der großen Basis der veranstalteten Erhebungen trotz der kurzen Beobachtungszeit das Prinzip der großen Zahlen bereits zur Geltung gelangt ist. Diese Übereinstimmung berechtigt aber auch, wenigstens in gewissem Maße zu der Hoffnung, daß für die anderen großen Industriegruppen, bezüglich deren es an vergleichbaren Zahlen gänzlich fehlt, annähernd ebenso zufriedenstellende Resultate werden genommen werden. Denn nach gleichen Grundsätzen haben überall die Erhebungen stattgefunden, und mit seltenen Ausnahmen hat sich in den Kreisen der Beteiligten überall das gleiche Entgegenkommen gezeigt. »
  • 3Vgl. dazu den Bericht des Direktors des kaiserlichen Statistischen Amtes, Dr. Karl Becker an v. Boetticher (BArchP 15.01 Nr. 407, fol. 175─181); die ausführliche Druckfassung wurde unter der Verfasserschaft Tonio Bödikers veröffentlicht, vgl. Nr. 57 Anm. 10. »
  • 4B.: Die Gruppen enthalten zu heterogene Bestandteile; Kriterium für Gefahr ist: 1. unter der Oberfläche. 2. Maschinen.; 3. Chemikalien, explosibel oder corrosiv; (unter b) 2a. Dampf, b. Wasser, c. Wind, 4. Hochbau »
  • 5B.: welchen Anteil der Gesamtzahl der existierenden Betriebe macht das aus? Oder gibt es nicht mehre(re) der Art als die aufgezählten? »
  • 6Gemeint ist der Gesetzentwurf über die Krankenversicherung der Arbeiter vom 8.4.1882, der sich in Arbeit befand (Bundesratsdrucksache Nr. 45, BArchP 15.01 Nr. 789, fol. 163 [1─19]). »
  • 7Gemeint ist der Bericht vom 3.2.1882 (Anm. 2). »
  • 8B.: Landwirtschaft? »
  • 9Gustav Behm, vgl. Nr. 1 Anm. 11. »
  • 10B.: auch die Controlle der interessierten Gefahrenklassen wird Gegendruck üben, um die Beiträge in Schranken zu erhalten. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 49, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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