II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 46

1882 März 11

Königlich Privilegierte Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen1 Nr. 119, Morgenausgabe

Teildruck

[Replik auf die offiziöse Kritik der privaten Unfallversicherungen]

In ihrem Bestreben, die Unfallversicherungsgesellschaften zu diskreditieren, war vor einiger Zeit offiziöserseits von einem Falle berichtet, in welchem eine derartige Gesellschaft versucht haben sollte, sich der vertragsmäßig übernommenen Pflichten dadurch zu entziehen, daß sie die Auszahlung der Summen unter nichtigen Vorwänden verweigert, dem geschädigten Arbeiter eine ungenügende einmalige Abfindungssumme angeboten und ihn schließlich zu einem langwierigen Prozesse gezwungen habe.2 Durch die Gegenäußerung der Gesellschaft stellte sich jener Fall später in einem wesentlich anderen Lichte dar. Jetzt wird nun von demselben offiziösen Blatte ein ähnlicher Fall erzählt: [...]3

Entspricht die Erzählung vollkommen den Tatsachen, so würde sie allerdings beweisen, daß das gegenwärtige Haftpflichtgesetz seinen Zweck nicht erfüllt. Das ist aber von anderer Seite und namentlich von der liberalen Partei schon zu einer Zeit anerkannt worden, als man sich regierungsseitig noch sehr wenig mit der Erörterung sozialpolitischer Fragen beschäftigte. Namentlich ist von der liberalen Partei stets anerkannt worden, daß, wenn Prozesse nicht zu vermeiden seien, wenigstens der Verletzte sofort nach dem Unfall in den vorläufigen Genuß der Entschädigung oder eines Teiles derselben trete. Aus diesem Grunde enthielten beispielsweise die im vorigen Jahre im Reichstage eingebrachten Anträge der Fortschrittspartei zum Unfallversicherungsentwurfe des Kanzlers die Bestimmung, daß das zuständige Amtsgericht ein vorläufig vollstreckbares Urteil erlassen solle. In den dem Volkswirtschaftsrate vorgelegten “Grundzügen für die Regelung der Unfallversicherung” finden wir dagegen keine Bestimmung, welche dem Arbeiter eine rasche Auszahlung der Entschädigung garantiert. Es heißt daselbst in Nr. 4: “Die Feststellung der Entschädigungen erfolgt durch Organe der Genossenschaften. Der Entschädigungsberechtigte kann gegen diese Feststellung den Weg der Beschwerde an die staatliche Aufsichtsbehörde beschreiten; gegen die Entscheidung der letzteren steht beiden Teilen der Rechtsweg offen.” Wenn sich also der Arbeiter benachteiligt fühlt, so kann er nach den Intentionen des Regierungsentwurfes nicht sofort den Rechtsweg beschreiten, was ihm doch wenigstens nach dem gegenwärtig in Geltung befindlichen Haftpflichtgesetz zusteht; er muß vielmehr zunächst sich bei der Aufsichtsbehörde beschweren und kann dann erst klagen. Daß ihm vor Beendigung des Prozesses die [ Druckseite 176 ] Entschädigung ausbezahlt werden wird, wird in den Grundzügen nicht gesagt. In dieser Beziehung würde also das neue Gesetz für die Arbeiter nicht günstiger sein.

Registerinformationen

Personen

  • Boetticher, Karl Heinrich von (1833─1907) Staatssekretär des Innern
  • Bosse, Robert (1832─1901) Direktor der II. Abteilung für wirtschaftliche Angelegenheiten im Reichsamt des Innern
  • Heyking, Edmund Freiherr von (1850─1915) Legationsrat im Auswärtigen Amt
  • Lohmann, Theodor (1831─1905) Geheimer Oberregierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Lucius, Dr. Robert (1835─1914) Arzt, preuß. Landwirtschaftsminister
  • Magdeburg, Eduard (1844─1932) Geh. Regierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Schäffle, Dr. Albert (1831─1903) Nationalökonom, ehem. österr. Handelsminister
  • 1Die freisinnige, älteste Berliner Zeitung, sog. “Vossische Zeitung”, erschien im Verlag Vossische Erben, Chefredakteur war Friedrich Stephany. »
  • 2Vgl. Nr. 45, Anm. 1. »
  • 3Es folgt eine Zitation aus der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung v. 10.3.1882 (Nr. 45, letzter Absatz). »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 46, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.02.01.0046

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