II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 38

1882 Januar 15

Bericht1 des bayerischen Gesandten in Berlin Hugo Graf von und zu Lerchenfeld-Koefering an den bayerischen Staatsminister des königlichen Hauses und Außenminister Krafft Freiherr von Crailsheim

Ausfertigung

[Albert Schäffles Aufenthalt und dessen Ansichten, Stand der Vorbereitungen der zweiten Unfallversicherungsvorlage]

Professor Schäffle, von dessen Anwesenheit ich Euer Exzellenz bereits in meinem gehorsamsten Berichte vom 3. l[aufenden] M[onats] Nr. 2 Meldung erstattet2, hat Berlin wieder verlassen. ─ Während seines Aufenthalts hatte er viele Unterredungen mit dem Reichskanzler3 sowie mit Minister von Boetticher und dem Geh.

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Regierungsrat Lohmann, deren Gegenstand die Reform der Sozialgesetzgebung bildete. Wie die meisten seiner Kollegen soll es nicht der Reichtum an Gedanken und Vorschlägen sein, an dem es dem ehemaligen österreichischen Minister gebricht, wohl aber soll manchmal ihm das Unterscheidungsvermögen zwischen dem, was durchführbar und was undurchführbar ist, mangeln. Er hat dem Reichskanzler, auf dessen schriftliche Einladung er nach Berlin kam, ein sehr umfangreiches Opus übergeben, welches ein Gesamtprogramm für eine Sozialreform Deutschlands sowohl auf dem Gebiete des Steuerwesens als auch auf dem Gebiete der eigentlichen Sozialgesetzgebung und dem Versicherungswesen bildet.4

Ich habe selbst Herrn Schäffle kennengelernt und mit ihm über einige der vom Reichskanzler angekündigten Entwürfe gesprochen. Unser Gespräch war aber zu abgerissen und oberflächlich, als daß ich eingehend darüber berichten könnte, und ich werde mich beschränken, nur eine Äußerung Herrn Schäffles genauer anzuführen, weil ich Ursache habe zu glauben, daß die darin ausgesprochene Ansicht an maßgebender Stelle Anklang gefunden hat und daher folgenreich sein könnte.

Herr Schäffle sprach sich nämlich dahin aus, daß nach seiner Ansicht eine allgemeine Reform des Krankenkassenwesens gleichzeitig mit der Unfallversicherung in Angriff genommen werden müsse. Einmal, weil hierdurch eine wesentliche Entlastung der Gemeinden, und zwar in einem viel höheren Grade als durch eine Unfallversicherung erzielt würde, ferner, weil nur auf diesem Wege die Karenzzeit, welche das letztere Gesetz in größerem oder geringerem Umfange bestehen lassen muß, zu beseitigen und hierdurch endgültig das Platzgreifen des Haftpflichtgesetzes auszuschließen sei, und endlich, weil diese Maßregel ganz anders populär bei der interessierten Arbeiterbevölkerung wirken würde als die Unfallversicherung, für welche das Verständnis fehlt.

Man hatte mir als Kuriosum erzählt, daß Herr Schäffle eine vollständige Steuerreform als in einem Jahre leicht durchführbar bezeichnet hatte; ich muß aber einer solchen wenig Sachkenntnis verratenden Äußerung gegenüber konstatieren, daß die Ansichten dieses Gelehrten, wenn auch sehr weitgehend in ihren äußersten Konsequenzen, mir doch wiederum sehr maßvoll erschienen bezüglich der Zeit, in welcher er die soziale Reform in Deutschland für durchführbar hält. Er anerkennt vollständig, daß zur Zeit die Wähler Deutschlands von den meisten Neuerungen nichts [ Druckseite 154 ] wissen wollen und daß man darum nur werde schrittweise, gewissermaßen pädagogisch vorgehen müsse. So äußerte er sich über die Frage, ob die ländlichen Arbeiter zur Unfallversicherung heranzuziehen seien, allerdings zustimmend, bemerkte jedoch, daß die Maßregel vorläufig so unpopulär sei, daß man nur in sehr beschränktem Maße sie in Angriff nehmen könne. Man müsse nur bei einzelnen Klassen ländlicher Arbeiter ─ denjenigen, welche bei Maschinen beschäftigt sind ─ beginnen und zugleich die Maßregel fakultativ und lokal begrenzt einfuhren.

Ich erwähne dies besonders, weil ich bei dieser Gelegenheit erfuhr ─ eine Nachricht, die mir übrigens seitdem bestätigt wurde ─, daß der Reichskanzler auf den Gedanken, die Unfallversicherung auf die ländlichen Arbeiter auszudehnen, zurückgekommen ist. Im vorigen Jahr wurde bei den Ausschußverhandlungen über das Gesetz diese Frage gestreift, fand aber von keiner Seite eine Unterstützung, und vom Reichskanzler war die Erweiterung der Versicherung nach dieser Richtung mir gegenüber als wünschenswert, zugleich aber als zu weittragend und vorläufig undurchführbar bezeichnet worden.5

Über den Stand der Vorarbeiten im Reichsamt des Innern und Reichsschatzamt habe ich Euer Exzellenz anzuzeigen, daß der Geheime Regierungsrat Lohmann den Entwurf der Unfallversicherung auf neuen Grundlagen dem Reichskanzler vor circa 14 Tagen übergeben hat. Derselbe ist aber in seinem ganzen Umfange vom Fürsten nicht gebilligt worden, welcher an verschiedenen Punkten Anstoß nahm und seinerseits neue Anregungen gab.6 Wie ich erfahre, wird es also wohl noch vier Wochen dauern, bevor ein definitiver Entwurf vorliegt. ─ Ein ähnliches Verhältnis scheint mit dem Tabakmonopolentwurf zu obwalten, den Geheimer Regierungsrat Boccius7 zur Überarbeitung gleichfalls wieder zurückerhalten hat. [...]

Anfang März, vielleicht schon Ende Februar würden nach Ansicht Herrn von Boettichers die Vorarbeiten abgeschlossen sein und sodann die Entwürfe an den preußischen Volkswirtschaftsrat und an den Bundesrat gebracht werden können. Das dürfte dann auch der Zeitpunkt sein, äußerte sich weiter Herr von Boetticher, an welchem die Ersten Bevollmächtigten der Regierungen Einladungen erhalten würden, sich an den Sitzungen zu beteiligen. Es wäre zu hoffen, daß bis Mitte April die Arbeiten im Bundesrat so weit gediehen seien, um den Reichstag einzuberufen.

Wie Euer Exzellenz dem Vorstehenden geneigtest entnehmen wollen, wird also an der Frühjahrssession prinzipiell festgehalten. Meines unmaßgeblichsten Erachtens nach wird sich die Frage im preußischen Landtage entscheiden. Es wird sich dort herausstellen, inwieweit der Reichskanzler auf eine Unterstützung des Zentrums für seine wirtschaftlichen Fragen rechnen kann, ohne welche die Session im Frühjahr ohne Zweifel steril bleiben müßte. Daß das Tabakmonopol unter allen Umständen im Reichstag verworfen wird, kommt hierbei nicht in Betracht. Darüber besteht auch beim Reichskanzler wohl kein Zweifel. Es wird aber diese Vorlage [ Druckseite 155 ] schon um deswillen an den Bundesrat und eventuell an den Reichstag gebracht werden, weil dieselbe in der Thronrede feierlich angekündigt worden ist.

Registerinformationen

Personen

  • Beutner, George F. (1829─1893) Geschäftsführer des Zentralverbands deutscher Industrieller
  • Boccius, Friedrich (Franz?) (um 1830─1907) Geheimer Oberregierungsrat im Reichsschatzamt
  • Boetticher, Karl Heinrich von (1833─1907) Staatssekretär des Innern
  • Buhl, Dr. Franz Armand (1837─1896) Gutsbesitzer, MdR (nationalliberal)
  • Lohmann, Theodor (1831─1905) Geheimer Oberregierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Magdeburg, Eduard (1844─1932) Geh. Regierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Richter, Karl (1829─1893) Hüttendirektor, MdR (Deutsche Reichspartei)
  • Russel, Emil (1835─1907) Bankier, Vorstandsmitglied des Zentralverbands deutscher Industrieller
  • 1BayHauptStA MA 77379, Entwurf: ebd., Bayerische Gesandtschaft Berlin 1052, n. fol. »
  • 2Ausfertigung BayHauptStA MA III 2660, n.fol.; in diesem hatte er u.a. berichtet: Den Reichskanzler sah ich heute. Er erzählte mir, daß er lange mit Professor Schäffle aus Wien (sic!) gesprochen habe, welcher, wie ich vermute, zu diesem Zweck nach Berlin gekommen ist. ─ Man kann diesen ehemaligen österreichischen Minister wohl als den Vater mancher Ideen betrachten, welche in die sozialpolitischen Pläne des Reichskanzlers Eingang gefunden haben. Im Entwurf (ebd., Bayer. Gesandtschaft Berlin 1052, n.fol.) hieß es: Man kann diesen ehemaligen österreichischen Minister wohl als den Vater mancher Ideen betrachten, die durch die sozialpolitischen Pläne des Reichskanzlers verwirklicht werden sollen. »
  • 3In seinen Erinnerungen hat Albert Schäffle über seine erste Unterredung mit Bismarck u.a. folgendes berichtet: Bismarck zeigte auf sich als leidenden, abgearbeiteten Mann, ging aber sofort mitten in die Sache hinein. Die erste Bemerkung war, daß man auf einem so wenig betretenen Boden tasten müsse, wie auf der Wildentenjagd mit der Stange die Festigkeit des Bodens probiert werde, und daß hierfür die korporative Gestaltung den sichersten Spielraum gewähre. Er ging dann in Einzelheiten der Frage ein, von welchen er jedoch wiederholt auf allgemeine Fragen zurückkam. Kaum war ich zehn Minuten eingetreten gewesen, so gab der Fürst unter den heftigsten Schmerzen sich krümmend und im Zimmer auf und abgehend, seinen tief krankhaften und wahrhaft schmerzvollen Zustand kund. Dennoch hieß er mich bleiben, “es sei nur ein vorübergehendes Manöver,” das er sich im Zimmer auferlegen müsse. Mit wunderbarer Beherrschung des Schmerzes setzte er die sachliche Unterhaltung fort, wobei es sich hauptsächlich um die Priorität der Krankenkassenorganisation handelte. Diese Priorität leuchtete ihm noch nicht ganz ein, während ich sie freimütig und entschieden als das logisch und praktisch Erstnotwendige vertrat. Am Schluß lud er mich mehrmals auf das freundlichste zu demnächst (in den nächsten Wochen) stattfindenden Konferenzen unter seinem Vorsitz ein und stellte mir dann als Referenten und Träger des Verkehrs mit mir den liebenswürdigen Legationsrat Baron von Heyking, späteren Gesandten in Peking, vor. (Aus meinem Leben, Bd. 2, Berlin 1905, S. 174 f.) Wie aus einem Brief Schäffles an Bismarck v. 4.2.1882 hervorgeht, mit dem dieser revidierte Entwürfe von Grundzüge(n) eines Gesetzes für die Errichtung korporativer Krankenkassen im ganzen Umfang des deutschen Reichs sowie Grundzüge(n) eines Reichsgesetzes betreffend die Ausdehnung des korporativen Hilfskassenzwangs auf die Sicherstellung gegen die Folgen der aus Betriebsunfällen entstehenden dauernden Erwerbsunfähigkeit (Unfallinvalidität) (BArchP 07.01 Nr. 527, fol. 317e─366) zusandte, entwickelte Bismarck dann noch folgende Gesichtspunkte ─ von den Bearbeitern [F.T./H.W.] mit den sonst üblichen Termini gekennzeichnet ─ zur Ausgestaltung von Kranken- und Unfallversicherung: 1. Korporative Rückversicherung (Subsidiarhilfe), damit die Deckungskapitale ganz entfallen können [also: Umlageverfahren]. 2. Gliederung nach den Risiken: erstens durch Zusammenstellung gleicher Kollektivrisiken [nach dem Risiko gleich: also nach Gefahrenklassen, vgl. Nr. 27 Anm. 6] in demselben Verband [also: Reichsebene], zweitens durch Individualisierung der Risiken innerhalb jedes Verbandes durch Zuschläge für die Gefahrarbeiter, drittens durch Belastungszuschläge für betriebsnachlässige Unternehmer. 3. Separate Behandlung der landwirtschaftlichen Gefahrarbeiter und der Arbeiter in sonstigen, isoliert betriebenen Betrieben, daher weniger verbandsfähigen Geschäften. 4. Belastung der Unternehmer alleinig mit den Kosten der Unfallversicherung, 5. Reichszuschuß in der Übergangsperiode. (ebd., fol. 317a─317d Rs.) »
  • 4Vgl. Nr. 18 Anm. 3. »
  • 5Vgl. Bd. 2 der I. Abteilung dieser Quellensammlung (1993), S. 531 ff., 558 u. 587. »
  • 6Diese dürften gegenüber v. Boetticher erfolgt sein und zum Auftrag zur Ausarbeitung eines Entwurfs von Grundzügen an Eduard Magdeburg geführt haben, vgl. Nr. 41. »
  • 7Friedrich (Franz?) Boccius (gest. 16.5.1907), Geheimer Oberregierungsrat im Reichsschatzamt. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 38, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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