II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 33

1882 Januar 4

Gutachten1 des Staatsministers a.D. Dr. Albert Schäffle

Abschrift mit Randbemerkungen Bismarcks

[Gutachten zur Erstfassung der zweiten Unfallversicherungsvorlage. Hauptgesichtspunkte: Genossenschaften tragen Kosten der Versicherung ─ Normierung der Beiträge für 5 Jahre zum Zwecke der Reservefondsbildung durch den Bundesrat ─ fehlende Prämienbeiträge sind durch Reichsmittel aufzubringen ─ Gruppierung der Betriebe nach Berufsverwandtschaft und Risiko ─ Mitheranziehung der Arbeiter in die sozialpolitischen und verwaltungsökonomischen Aufgaben der Genossenschaften]

Nach Durchlesung des neuen Unfallversicherungsgesetzentwurfes und mit Beiseitelassung aller Quisquilien erlaube ich mir ganz ergebenst, das nachstehende Gutachten abzugeben, dessen Hauptpunkte Eure Durchlaucht vielleicht mündlich zu erledigen finden werden:

A. Finanzielles:

1. Um dem schwersten Einwurf zu begegnen, wäre auszusprechen, daß die vollen Kosten der Versicherung endgültig 2 von den Genossenschaften zu tragen seien.

2. Demgemäß hätte der Bundesrat zunächst für fünf Jahre die Beiträge so zu normieren, daß Reserven 3 für die Zeit des vollen Schadenseintrittes sich bilden müssen; 3 % der Löhne in maximo genügen für Betriebsunfallsversicherung nach allgemeiner Anerkennung.

3. Im ersten Quinquennium hätten die Genossenschaften nur allmählich in die volle Versicherungslast einzutreten, und zwar wie folgt:

1. Jahr: 50, 2.: 60, 3.: 70, 4.: 80, 5.: 90 Prozent,

den Rest trüge durch Vermittlung der bundesstaatlichen Staatskassen die Reichs- kasse;

4. Nach 5 Jahren erfolgt die Revision der Minimalprämiensätze (Z[iffer] 2) aufgrund der für alle Gruppen gewonnenen Erfahrungstatsachen; stellt sich hierbei heraus, daß die nach Z. 1 und 2 gebildeten Reserven (Korporationsdeckungskapital) zu hoch waren, so kommt das Surplus der Kapitalansammlung dem Genossenschaftsreservefonds ─ oder woferne dann mit der Altersversorgung 4 ein Anfang gemacht würde ─ den Zwecken dieser Versorgung zugute, würde sich aber herausstellen, daß die Prämiensätze nicht für die volle Gefahr Deckung geben, so wäre das [ Druckseite 127 ] Fehlende, halb durch Prämienzuschläge, halb aus Reichsmitteln, nachträglich aufzubringen;

5. Der Modus Z. 1─4 wäre für die Beweglichkeit in der Kombination und Separation der Verbände (nach § 42 ff.) von unschätzbarem Werte;

6. Außer der Deckungsreserve (für den Schaden einer vollen Betriebsunfallsinvalidengeneration) wären Reservefonds zur Ausgleichung der Jahresschwankungen, namentlich bei den Massenverunglückungsgewerben, ─ Reservefonds im Gegensatz zum Deckungskapital ─ anzuhäufen; den in den ersten 10 Jahren über 2/3 des Reservefonds hinaus anfallenden Schaden könnte das Reich übernehmen; für später wäre eine allgemeine deutsche Rückversicherungsgenossenschaft vorzubehalten;

7. Die landwirtschaftlichen Betriebsunfälle würden zwar, in solange als neben den Berufsverbänden nicht auch Kommunal-(Distriktual-, Territorial-) Verbände gebildet werden, nicht beigezogen 5 werden. Es stünde jedoch der Landesgesetzgebung und der Kommunalautonomie frei, solche allgemeinen Kommunalhilfskassen zu beschließen, mit der doppelten Wirkung:

a. des Anspruchs auf die den Berufshilfskassen gewährten transitorischen Reichszuschüsse,

b. der Pflicht der Versicherung auch der landwirtschaftlichen Gefahrarbeiten;

B. Gruppierungsgrundsätze

wären gesetzlich dahin aufzustellen:

Zu § 10 f. des Entwurfs

1. Gruppierung nach der Angehörigkeit zu derselben Betriebsunternehmung, dann

2. zu den nach Risiko 6 und Berufsverwandtschaft sich nächststehenden Geschäften desselben politischen bzw. Armenverbandsbezirkes7.

3. Berechtigung der Genossenschaft, für den in gefährlichem Betrieb verwendeten Teil der Arbeiter Zuschläge 8 zu erheben und hiernach Klassen von Versicherten (mit Zuschlägen bis 20 % zur Normalprämie) zu verfügen.

C. Innere Verfassung der Genossenschaften betreffend:

1. aus sozialpolitischen und verwaltungsökonomischen Gründen Mitheranziehung der Arbeitnehmer, sofern sie mehr als 500 Mark Lohn während des letzten Verwaltungsjahres erhielten und hierfür belastet sind, jedoch mit folgenden weiteren Beschränkungen:

a) Wahlrechte für alle Mitglieder erst vom 26. Lebensjahre an, Wählbarkeitsrecht erst vom 31. Lebensjahre an;

b) fünfjährige Zugehörigkeit zur Genossenschaft als conditio sine qua non der Wählbarkeit.

c) In die “Vorstandschaften” wird kurienweise gleich gewählt;

2. Vertretung des weiteren Verbandes als der auf die Dauer belasteten Korporation in den Vorstandschaften der Genossenschaftsabteilungen durch eine Anzahl [ Druckseite 128 ] nominierter Mitglieder aus der Zahl der Angehörigen der Genossenschaftsabteilung.

3. Petitionsrecht der Vertreter jeder Kurie in Sachen der Unfallversicherung.

(§ 25, § 27 des Entwurfes)

D) In einem § 101 Berechtigung des Bundesrates zur Sammlung der Erfahrungstatsachen für Zwecke der Altersversorgung durch die Unfallgenossenschaften zu verfugen gegen Ersatz der Kosten.

E) Diverses von untergeordneter Bedeutung:

1. Freiheit von Einkommens- und Rentensteuern der Staaten und Gemeinden für sämtliche Aktivkapitale der Genossenschaften;

2. Die Definierung dessen, was “Fabrik” ist, gesetzlich genau als Befugnis des Bundesrates vorzusehen;

3. ad § 8, Abs. 2 und 3, auch den Krankenkassen Ersatz der Auslage;

4. ad § 13 weniger peremtorische Fassung des ersten Absatzes (statt “sind” ─ “können”)

5. ad § 17: Die Befugnis, Auskunft zu verlangen, wäre auch den Genossenschaftvorständen einzuräumen.

6. ad § 31: Strafbeiträge “bis zum Doppelten” doch wohl zu hoch; besser wohl: Verlust der genossenschaftlichen Aktivrechte;

7. ad § 37: Pflicht des Unterverbandes zu sachgemäßer Heilpflege während der ersten 13 Wochen aussprechen, unter Gefahr einer Mehrbelastung bis ... Mark;

8. ad § 42 ff.: Im Falle der Zusammenlegung oder Separation wäre die Ausfolgung des aliquoten Teils des Deckungskapitals (Z. 2) vorzusehen und vielleicht auch die Zustimmung eines Landesausschusses der Genossenschaftsvorstände zu unfreiwillligen Zuschiebungen. Auf die Befugnisse der Verwaltungsbehörden nach § 42 ff. wird sich die liberale Opposition mit Wucht werfen!

9. ad § 61: Verzeichnis der Lohnsummen für jedes Mitglied offen zu erklären;

10. ad § 69: Unfallanzeigepflicht peremtorischer!

11. ad § 75: Letzter Absatz enthält einen Impuls zum Selbstmord (Beschränkung der Hinterbliebenen auf 50 % des Normalsatzes).

12. ad § 81: wäre zu statuieren: Pflicht aller Behörden zur Anzeige der Tatsachen der Simulation und der Revalidität; Recht der Probebeschäftigung der Halbinvaliden mit Zustimmung des Distriktsgerichtsarztes;

Pflicht des Halbinvaliden zu jeder vom Gerichtsarzt zulässig erklärten, von der Genossenschaft angewiesenen Beschäftigung, ─ desgleichen Pflicht der Witwen und Waisen;

Kassation des Invalidengehaltes bis zu 25 % gegen Simulanten9;

13. Zuweisung der Ordnungsstrafgelder an die Reservefonds (§ 98); Sicherheit der Kautionen des § 65 für den Fall von Konkurs vorzusehen.

14. “Grobes Verschulden” allgemein mit der gerichtlich auszusprechenden Rechtsfolge des hälftigen Verlustes zu belegen.

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Registerinformationen

Personen

  • Bismarck, Herbert Graf von (1849─1904) Legationsrat im Auswärtigen Amt
  • Heyking, Edmund Freiherr von (1850─1915) Legationsrat im Auswärtigen Amt
  • Schäffle, Dr. Albert (1831─1903) Nationalökonom, ehem. österr. Handelsminister
  • Wagner, Prof. Dr. Adolph (1835─1917) Nationalökonom, Mitbegründer der christlich-sozialen Partei
  • 1BArchP 07.01 Nr. 508, fol. 248─255; eigenhändige Ausfertigung Schäffles: ebd. 15.01 Nr. 382, fol. 108─111. Am 28.2.1882 wurde diese von v. Heyking zu den Akten gegeben; vgl. zum Kontext Nr. 26 Anm. 4, Nr. 32 Anm. 7, Nr. 34 und Nr. 38; danach handelt es sich um eine vergleichsweise spontane Stellungnahme, da Schäffle der Regierungsentwurf erst nach seiner Ankunft in Berlin durch v. Heyking zugänglich gemacht wurde. »
  • 2B.: zu Anfang? »
  • 3B.: abschr(eckend) hoch, lieber nicht; allmählich steig(end) ist besser. »
  • 4B.: nicht mischen »
  • 5B.: ? warum? Elementarkraft »
  • 6von B. doppelt unterstrichen »
  • 7B.: ?, von B. unterstrichen »
  • 8B.: n(et) [in kyrillischer Schrift: nein, nicht] »
  • 9B.: Zwangsarbeit? »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 33, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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