II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 24

1881 November 29

Brief1 des Reichskanzlers Otto Fürst von Bismarck an den Staatsminister a.D. Dr. Albert Schäffle

Ausfertigung

[Bismarck will bei seinem sozialen Reformwerk schrittweise vorgehen, die Unfallversicherung auf berufsgenossenschaftlicher Grundlage soll dabei der Ausgangspunkt sein]

Euerer Exzellenz spreche ich für den mir übersandten Gesetzentwurf zu einer berufsgenossenschaftlichen Arbeiterversicherung meinen verbindlichsten Dank aus.2 Mein Interesse an Ihrer inhaltsreichen Arbeit wächst, je mehr ich mich in die von Ihnen entwickelten Gedanken vertiefe. Auch weicht meine eigene Ansicht in keinem wesentlichen Punkte von den in Ihrem Entwurfe vertretenen prinzipiellen Zielen ab; wohl aber glaube ich, daß es aus taktischen Gründen geboten ist, nicht das ganze ins Auge gefaßte Reformwerk avon Hause aus gleichzeitiga in Angriff zu nehmen, sondern nach dem Grundsatze qui trop embrasse mal étreint vorerst die Legung adera Fundamente zu dem zukünftigen Gebäude zu aerstrebena. Als wesentlichste Bedingung einer lebensfähigen Organisation des sozialen Schutzes betrachte ich die Schaffung berufsgenossenschaftlicher Verbände.

aDie Herstellunga dieser Verbände sollte meiner Ansicht nach zunächst aerstrebt werden, und dafür bietet die schon am weitesten vorbereitetea Unfallversicherung der Arbeiter adie leichteste Handhabea. Haben awira die Berufsgenossenschaften, so wird eine Erweiterung ihrer Tätigkeit auf die Alters- und Invalidenversorgung sich weit leichter herbeiführen lassen, als wenn gleich zu Anfang ihnen ein so umfassendes Programm aalsa Aufgabe ahingestellt wirda.

[ Druckseite 91 ]

Wollte die Reichsregierung gegenwärtig mit dem Gesamtplan der sozialen Neuorganisation agleichzeitiga hervortreten, so würden zahlreiche Gesellschaftskreise durch die Größe der bevorstehenden Aufgabe aabgeschreckta und zur Opposition getrieben werden. Das Gebiet der sozialen Reformen muß daher schrittweise nach und nach betreten werden, gemäß jener bewährten Maxime der Savoyischen Dynastie, welche ein Gebiet, das sie sich zu unterwerfen trachtete, mit einer Artischoke verglich, die nicht mit einem Bissen, sondern nur blattweise inkorporiert werden könne.

Ich habe Abschrift von Ihrem Manuskript nehmen lassen und beehre mich, letzteres, Ihrem Wunsche entsprechend, anbei zurückzusenden. Ich hoffe zugleich, daß sich demnächst Zeit und Gelegenheit zu mündlicher Besprechung dieser Angelegenheit, der Eure Exzellenz Ihre mir wertvolle Unterstützung gewidmet haben, bieten wird. Genehmigen Euere Exzellenz den erneuten Ausdruck meiner vorzüglichsten Hochachtung.

Registerinformationen

Personen

  • Boetticher, Karl Heinrich von (1833─1907) Staatssekretär des Innern
  • Scheffel, Joseph Victor von (1826─1886) Dichter
  • 1Ausfertigung im Besitz von Joachim Beck, Schortens; Entwurf von der Hand v. Heykings mit durch a-a gekennzeichneten Abänderungen Bismarcks: BArchP 07.01 Nr. 527, fol. 204─206; Abdruck: Albert Schäffle, Aus meinem Leben, Bd. 2, S. 163 f. »
  • 2Schäffle hatte seinen Gesetzentwurf am 20.11.1881 übersandt und daraufhin ein bestätigendes Dankschreiben Bismarcks vom 25.11.1881 erhalten (Ausfertigung im Besitz v. Prof. Dr. Ewald Beck, Wettenberg; Abdruck: A. Schäffle, Aus meinem Leben, Bd. 2, S. 161 ff.) »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 24, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.02.01.0024

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