II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 21

1881 November 17

Bericht1 des bayerischen Gesandten in Berlin Hugo Graf von und zu Lerchenfeld-Koefering an den bayerischen Staatsminister des königlichen Hauses und Außenminister Krafft Freiherr von Crailsheim

Entwurf, Teildruck

[Bismarcks politische Taktik: Er will das Zentrum in positiven Handlungszwang gegenüber der Regierung bringen, es in Verzug setzen; angesichts der Stärke der liberalen Fraktionen ist das Zentrum in einer verzwickten Situation]

[...] Bei der Wichtigkeit der Sache2 unterließ ich es aber nicht, bei Gelegenheit der Reichstagseröffnung den Reichskanzler nochmals auf diesen Gegenstand zu bringen und ihn zu fragen, ob er denn wirklich parlamentarische Regierungen, von denen entweder dem Zentrum oder den liberalen Parteien der Löwenanteil zufiele, für möglich hielte. Der Fürst erwiderte mir hierauf wörtlich: “Ich will wenigstens die Leute en demeur setzen.” Leider wurde die Unterredung hier durch den Beginn der Eröffnungsfeier unterbrochen, aber der kurze Satz scheint mir vollständig das zu bestätigen, was ich gestern E[uer] E[xzellenz] berichtete, daß das Anerbieten an die Parteiführer zum Eintritt in die Regierung vorläufig nichts als ein taktischer Zug ist, bestimmt, die Situation zu klären. Das Zentrum soll dadurch gezwungen werden, nicht allenfalls ein parlamentarisches Ministerium zu bilden3 oder zu ver-

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stärken, denn hierzu ist die Partei wohl weder in der Lage, auch nicht geneigt, sondern das jetzige Ministerium parlamentarisch zu unterstützen, um so der Eventualität einer liberalen Regierung zu entgehen. [...] Es folgen Reflexionen über mögliche Konzessionen Bismarcks auf kirchenpolitischem Gebiet bzw. zur Beilegung des Kulturkampfes. Generell stellt er eine positive Veränderung der Haltung gegenüber dem Zentrum fest.

Die Auflösung des Zentrums als politische Partei war es, was der Reichskanzler damals4 im Auge hatte. Die Situation änderte sich aber in dem Maße als er sich von den Nationalliberalen entfernte, und als er Unterstützung bei dem Zentrum fand.5 Schon im Dezember vor[igen] Jahres sagte mir in dieser Beziehung Fürst Bismarck, daß er die Auflösung des Zentrums nicht mehr wünschen könne, weil er voraussehe, daß beim Zerfall der Partei der größte Teil der Mitglieder teils sofort, teils bald bei den nächsten Wahlen nicht den Konservativen, sondern den Demokraten zufallen würde.6

Diese Anschauung erklärt das zögernde Tempo der Unterhandlungen mit Rom, während des vorigen Winters und Frühjahrs und zugleich die Politik des Reichskanzlers gegenüber dem Zentrum in der letzten Session. Den Führern der Partei, namentlich Windthorst7, aber entging es nicht, daß man sie dilatorisch behandle, und so kam es, daß das Zentrum, welches sich anfänglich sehr geneigt gezeigt hatte, seine Unterstützung auf dem politischen und wirtschaftlichen Gebiete dem Reichskanzler zu gewähren, gegen Schluß der Session geradehin zurückhaltender und ablehnender wurde. “Wir sind düpiert worden” lauteten die Worte des Abg. Windhorst, mit denen er im Juni von hier abreiste.8

Durch den unerwarteten Ausfall der Wahlen ist gegenwärtig eine vollständig neue Situation geschaffen, die auch manche Rätsel bietet. So viel scheint aber festzustehen, [ Druckseite 77 ] daß wenn Fürst Bismarck mit diesem Reichstag parlamentarisch fortregieren und auch nur einen Teil seiner Bestrebungen erreichen will, er die Unterstützung des Zentrums nicht entbehren kann.9 Ob diese zur Bildung einer Majorität genügt, das ist freilich eine Frage, die sich erst im Verlauf der Session beantworten wird. Wenn aber einerseits die Unterstützung des Zentrums unentbehrlicher als je geworden ist, so hat sich doch andererseits die Lage der Partei verschlechtert, weil sie durch das starke Wachsen der liberalen Fraktionen sich bedroht sieht. Von diesen kann sie voraussichtlich weder in kirchlichen noch in politischen Fragen jemals [ Druckseite 78 ] Gutes für sich erwarten u. muß daher nun ihrerseits den Halt bei der Regierung suchen.

Daß vom Reichskanzler u. vom Zentrum die Lage so aufgefaßt wird, haben zahlreiche offiziöse Äußerungen der Presse bewiesen. [...]

Registerinformationen

Personen

  • Boetticher, Karl Heinrich von (1833─1907) Staatssekretär des Innern
  • Bosse, Robert (1832─1901) Direktor der II. Abteilung für wirtschaftliche Angelegenheiten im Reichsamt des Innern
  • Brentano, Prof. Dr. Lujo (1844─1931) Nationalökonom
  • Eck, Paul (1822─1889) Direktor im Reichskanzleramt
  • Fechenbach, Karl Frhr. von (1836─1907) Gutsbesitzer und Politiker
  • Friedrich Wilhelm (Friedrich III.) (1831-1881) Kronprinz (Deutscher Kaiser und König von Preußen)
  • Lieber, Dr. Ernst Philipp (1838─1902) Jurist, MdR (Zentrum)
  • Lohmann, Theodor (1831─1905) Geheimer Oberregierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Rottenburg, Dr. Franz von (1845─1907) Geheimer Regierungsrat, Chef der Reichskanzlei
  • Schäffle, Dr. Albert (1831─1903) Nationalökonom, ehem. österr. Handelsminister
  • Schorlemer-Alst, Dr. Burghard Frhr. von (1825─1895) Rittergutsbesitzer, MdR (Zentrum)
  • Wagner, Prof. Dr. Adolph (1835─1917) Nationalökonom, Mitbegründer der christlich-sozialen Partei
  • 1BayHStA Bayerische Gesandtschaft Berlin 1051, n.fol. »
  • 2Die von Bismarck tags zuvor angedeutete Regierungsbeteiligung des Zentrums (vgl. Nr. 20). »
  • 3Die Richtigkeit dieser Auffassung bestätigt ein weiterer Bericht v. Lerchenfelds an v. Crailsheim v. 17.12.1881, der sich mit einer damals wohl erwogenen Berufung v. Franckensteins zum bayerischen Minister(präsidenten?) befaßt. Bismarck lehnte das strikt ab: Baron v. Franckenstein sei ihm zwar als klarer, zuverlässiger Mann bekannt, es sei aber im allgemeinen Interesse nicht zu wünschen, daß ein Mitglied des Zentrums in ein Ministerium (...) eintrete. Dieses begründete er damit, daß Windthorst in erster Linie Welfe sei, vom König von Hannover bezahlt werde und das Zentrum somit unter dem Einfluß welfischer Interessen stände (BayHStA Bayer. Gesandtschaft Berlin 1051, n.fol.). Bismarcks Politik lief also auch hier letztlich auf den Versuch einer Isolierung Windthorsts hinaus (vgl. dazu auch den Tagebucheintrag von Robert Lucius v. 11.12. 1881, BA Koblenz NL 298 Goldschmidt Nr. 30, stark redigiert und fälschlich unter 11. “November” auch: Bismarck Erinnerungen des Staatsministers Freiherrn Lucius von Ballhausen, Stuttgart u. Berlin 1920, S. 218. »
  • 4Auf dem Höhepunkt des Kulturkampfes, zur Zeit der sog. Maigesetze von 1874. »
  • 5Gemeint ist hier die sog. Franckensteinsche Klausel des Zolltarifgesetzes von 1879. »
  • 6Vgl. dazu auch die Ausführungen Bismarcks gegenüber Frhr. v. Schorlemer (Die geheimen Papiere Friedrich von Holsteins, Bd. 2, Göttingen 1957, S. 8; Die gesammelten Werke, Bd. 6c, S. 247 f.) und zu v. Rottenburg (Also sprach Bismarck, hg. v. Heinrich v. Poschinger, Bd. 3, Wien 1911, S. 37). »
  • 7Dr. Ludwig Windthorst (1812─1891), Jurist, seit 1867 MdR (Bundesstaatl.-konst. Vereinigung, seit 1870: Zentrum), 1870 Mitbegründer der Deutschen Zentrumspartei und seit 1874 ihr unbestrittener Führer. »
  • 8Vgl. zu dieser Auffassung Windthorsts und ihren Auswirkungen Bd. 2 der I. Abteilung dieser Quellensammlung, Nr. 232 (S. 615). Ludwig Windthorst hatte schon 1874 seine Auffassung über den Stellenwert der Arbeiterpolitik formuliert: Vorrangig war unter den Bedingungen des Kulturkampfes die Kirchenpolitik: Die Kirche freizumachen, sei aber auch für die sozialen Aufgaben das zunächst Wichtigste, denn sie sei dabei unentbehrlich (...). Sobald aber in diesen Beziehungen die Lage besser sei, müsse sofort sozialpolitisch vorgegangen werden, und er werde ganz gewiß mit dabei sein! (Der Volksverein, I, 1891, S. 19, Nachruf auf Windthorst, der eine Äußerung von W. zum Verhältnis von Kirchen- und Sozialpolitik im Jahr 1874, wohl gegenüber Dr. Ernst Lieber, wiedergibt) »
  • 9Der Kronprinz Friedrich Wilhelm notierte am 27.12.1881 in seinem Tagebuch: Es ist ganz merkwürdig, wie groß das Mißtrauen gegen Bismarck in bezug auf die Möglichkeit seiner Nachgiebigkeit gegen Rom geworden ist. Man mutet ihm zu, daß, weil die Zentrumspartei so bedeutend angewachsen und entscheidend im Reichs- wie im Landtage war, er, um sie für seine innere Politik zu gewinnen, Konzessionen weitester Art an die Kurie machen will (GStA Dahlem (M) HA Rep. 52 F 1 Nr. 7 u). Im Hinblick auf Bismarcks Sozialstaatspolitik war die Haltung des Zentrums alles andere als einheitlich. Ganz abgesehen von dem Windthorstschen Primat der Kirchenpolitik zeigte sich seit 1881 eine mehr liberale und eine mehr konservative Richtung. Der liberalen Richtung ist z.B. der Leitartikel “Arbeiterversicherung mit Staatszuschuß, ein Hindernis gesunder Sozialreform” der “Germania” vom 31.8.1881 (Nr. 197) zuzurechnen, ihr war auch Dr. Ernst Lieber (MdR seit 1871, Zentrum) verpflichtet, der seinem Freund Lujo Brentano am 11.10.1881 u.a. schrieb: Mir persönlich entspricht ja ziemlich genau die Darstellung (es handelt sich dabei um die Erstfassung von Brentanos Abhandlung “Die gewerbliche Arbeiterfrage” im: Handbuch der Politischen Ökonomie, hg. v. Gustav Schönberg, Tübingen 1882, S. 905 ff., die einen Abschnitt über “die Arbeiterfrage und die sozialpolitischen Ideenrichtungen” enthält [S. 929ff.]), welche Du gibst, nur daß ich zur Frage der von Staats wegen zu organisierenden praktischen Maßnahmen ungefähr wie Du mich stelle, u. lebhaft wünschte ich, das Zentrum hielte geschlossen an diesem älteren Standpunkt fest bzw. würde für denselben dauernd festgemacht. Den unparteiischen Darsteller der Dinge wie sie sind, wird aber kaum unberührt lassen dürfen, daß eine stark zum Staatssozialismus neigende Richtung auch unter uns momentan ihre Adepten zählt u(nd) bei den einzelnen gesetzgeberischen Aufgaben gefährlich um die Herrschaft u. wenigstens implizite Anerkennung von Prinzipien ringt, die uns mit einem Schlage zu den sozialpolitisch Reaktionären vom Schlage der Zünftler oder den dritten Radikalen unter dem “discanto” des sozialen Königtums transferieren würden. Vide auch die dem Zentrum allerdings, Gott Dank! bisher feindliche Bewegung “Fürst Isenburg-Fechenbach”, von der Du m(eo) v(oto) ein kräftig Wörtlein einfügen solltest. Daß Du die Zentrumspartei konstant katholisch nennst, verstehe ich, es trifft im Kern den Gegensatz zu (den sozialkonservativen Pastoren Rudolf) Todt wie (Adolf) Stöcker. Tatsächlich ist sie jedoch nicht konfessionell. Vielleicht findest Du eine nahezu ebenso knappe Formel, die dieser Tatsache Rechnung tragend doch sagt, was Du sagen willst u. auch ich nicht ungesagt wissen möchte: daß sie der Mehrzahl ihrer Mitglieder wie ihrer ganzen Führung nach katholisch ist u. daß auch die Grundsätze des von Dir entwickelten wirtschaftlichen Programms derselben spezifisch diesem Ideenkreise angehören. (BA Koblenz NL Lujo Brentano Nr. 32a, fol. 16─18) Inwieweit Freiherr v. Franckenstein dem sozialkonservativen Ideenkreise seines (Groß-)Vetters Karl Freiherr v. Fechenbach (vgl. dazu Hans-Joachim Schoeps, CDU vor 75 Jahren. Die sozialpolitischen Bestrebungen des Reichsfreiherrn Friedrich Carl von Fechenbach 1836─1907, Zeitschrift für Religion und Geistesgeschichte, IX. Jg. 1957, S. 266 ff.) nahestand, bedarf noch einer genaueren Auswertung der Nachlässe der beiden Politiker. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 21, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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