II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 8

1881 Oktober 8

Volkszeitung1 Nr. 238 Die Statistik und das Unfallversicherungsgesetz

2eildruck

[Die von der Regierung veranlaßte Erhebung einer Unfallstatistik wird als überstürzt und unzureichend kritisiert]

Der Reichskanzler läßt jetzt, um Unterlagen für das Unfallversicherungsgesetz zu erhalten, statistische Erhebungen im Lande anstellen. Die betreffende amtliche Anweisung, wie die statistischen Angaben zu machen sind, hat folgende Fassung: “Die unterzeichnete Stelle ersucht Sie ergebenst, sich der Mühe zu unterziehen, die umseitigen beiden Tabellen für Ihren Betrieb auszufüllen und vom 3. Dezember d. J. an zur Abholung bereitzuhalten. Es handelt sich um die Gewinnung von statistischem Material, dessen die Reichsregierung für die Zwecke der Unfallversicherungsgesetzgebung bedarf. Um die Tabelle I. ─ betrifft die Unfälle und Folgen derselben ─ ausfüllen zu können, wird es zunächst der Sammlung der erforderlichen Notizen bedürfen. Dies geschieht am einfachsten durch Einrichtung eines Unfalljournals, in welches Sie vom 1. August d. J. an jeden Unfall derart eintragen, daß Sie den Namen des verletzten Arbeiters etc. und die Dauer der eingetretenen Erwerbsunfähigkeit bzw. den etwa erfolgten Tod notieren. Am 1. Dezember würden Sie für den einzelnen Monat die Notizen zusammenstellen und dabei allerdings bei Unfällen aus der letzten Zeit in die Lage kommen können, durch Schätzung die voraussichtliche Dauer der Erwerbsunfähigkeit bzw. die Zahl der Krankentage feststellen zu müssen, insofern am 30. November die Erwerbsfähigkeit des Verletzten noch nicht wiederhergestellt sein, oder an diesem Tage noch Unfälle vorkommen sollten. Dieser Schätzung wollen Sie sich, eventuell unter Zuziehung des Arztes, gefälligst unterziehen und danach die Eintragung vornehmen. In Spalte 4 und 5 sind diejenigen Arbeiter etc. aufzuzählen, welche in den Monaten August bis No-

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vember infolge Unfalls verstorben sind, mag auch der todbringende Unfall sich vor dem August ereignet haben; wogegen die während dieses Zeitraumes tödlich Verletzten, aber am 30. November nicht bereits Verstorbenen weder den Verstorbenen in Spalte 4 und 5, noch auch, sofern der Tod infolge des Unfalls mit Bestimmtheit vorherzusehen ist, den dauernd erwerbsunfähig gewordenen Arbeitern etc. in Spalte 6 bis 9 beizuzählen sind. Haben Sie in einem Etablissement verschiedene gesonderte Betriebe, z. B. Spinnerei, Weberei, Druckerei, so sind die Tabellen I und II ─ letztere betrifft die Angabe der Zahl der beschäftigten Arbeiter und Beamten ─ für jeden Betrieb gesondert aufzustellen, dagegen sind die verschiedenen Abteilungen eines Betriebes nicht besonders zu behandeln, wie denn auch die Reparaturwerkstätten, Schlossereien etc. größerer Fabriken diesen beizurechnen sind.

Nur diejenigen Unfälle sind zur Berechnung zu ziehen, welche sich beim Betriebe ereignen. Erleidet z. B. ein Spinnereiarbeiter im Wirtshause oder auf dem Felde beim Kornmähen einen Unfall, so ist er nicht zu zählen.”

Diese statistischen Erhebungen erstrecken sich auf Bergwerke, Salinen, Aufbereitungsanstalten, Brüche und Gruben, Werften, Bauhöfe, Fabriken und Hüttenwerke, ferner auf alle Betriebe, in welchen Dampfkessel oder durch elementare Kraft (Wind, Wasser, Dampf, Gas, heiße Luft usw.) bewegte Triebwerke zur Verwendung kommen, endlich auch auf Eisenbahn- und Schiffahrtsbetriebe, wenn sie als integrierende Teile eines der vorbezeichneten Betriebe lediglich für diesen bestimmt sind.

Hierdurch bekommen wir denn nun ein Bild, in welcher Ausdehnung die neue Unfallversicherung dem Reichstage vorgelegt werden soll. Bauhandwerker, sofern sie nicht gerade auf einem Bauhofe arbeiten, ländliche Arbeiter sowie Arbeiter in gewöhnlichen nicht mit Fabrikbetrieb verbundenen Gewerben sollen ausgeschlossen bleiben. Ja selbst Fabrikarbeiter usw., die sich außerhalb des Fabrikbetriebes ─ mag diese Arbeit nun auf Anordnung ihres Arbeitgebers ausgeführt werden oder nicht ─ bei ihrer Beschäftigung eine Verletzung zuziehen, sollen durch das Unfallversicherungsgesetz nicht entschädigt werden! Und um solchen Effekt einst zu erreichen, diese fürchterliche Überstürzung in der Einholung des statistischen Materials! Kann den Zahlen, die diese statistische Ermittlung liefert, wohl irgendwelcher Wert beigemessen werden? Eine Zeitspanne von vier Monaten soll genügen, um ein zuverlässiges Bild von dem zu erhalten, was durch das Unfallversicherungsgesetz berührt werden soll? Weiß man denn gar nicht, daß gerade dieses Versicherungswesen Forschungen und Studien bedarf, die sich nicht auf wenige Monate, nicht auf wenige Jahre, sondern auf ein Menschenalter und darüber hinaus erstrecken müssen? Wer ist es aber, von denen man diese statistischen Angaben verlangt? Es sind die Interessenten, die sich der Gefahr aussetzen, durch gewissenhafte Beantwortung der gestellten Fragen geschädigt zu werden! Oder glaubt man vielleicht, daß diese Herren so kurzsichtig sein und nicht merken werden, daß allzu viele Unfallangaben Veranlassung sein können, daß bei Feststellung der Tarife und Gefahrenklassen ihrem Betriebe eine stärkere Heranziehung zur Unfallprämie entstehen wird? Aber gesetzt den Fall, es unterziehen sich wirklich einzelne Fabrikanten der Mühe, führen ein Unfalljournal und füllen am 1. Dezember hiernach die Tabellen gewissenhaft aus, hat dann die Regierung hierdurch schon wirklich ein zuverlässiges Bild über die Zahl und Art der Unfälle im ganzen Lande? Zum Ausfüllen [ Druckseite 25 ] der Tabellen ist niemand verpflichtet, es ist daher mit voller Bestimmtheit anzunehmen, daß auch der größte Teil der Industriellen die gewünschten Angaben verweigern oder selbige so lückenhaft machen wird, daß das ganze gewonnene Material jeden reellen Wert verliert. Wozu, fragen wir aber vor allen Dingen, wozu so fürchterliche Eile mit diesen statistischen Erhebungen? Die Arbeiter stehen augenblicklich unter dem Schutze des Haftpflichtgesetzes, allerdings eines Gesetzes, das in betreff der Beweisführung über Unfälle, sowie in seiner Ausdehnung auf alle Arbeiter noch erheblich verbessert werden muß. Aber ist diese Änderung und Verbesserung des Haftpflichtgesetzes ─ wenn wirklich im Interesse des Arbeiters etwas Reelles geleistet werden soll ─ nicht viel leichter und schneller durchführbar, als die ganze Reichshaftpflichtversicherung? Wir glauben nicht, daß es eine Majorität von Abgeordneten im Reichstage geben wird, die aufgrund des ihr von der Regierung gebotenen viermonatlichen statistischen Materials die Notwendigkeit oder Zweckmäßigkeit der Unfallversicherungsgesetzvorlage wird anerkennen können. Ein Gesetz von so prinzipieller Bedeutung und unabsehbarer Tragweite bedarf einer sehr soliden Grundlage zur Prüfung und darf auch nicht behandelt werden, als gelte es eine Hasenjagd. Man wirft jetzt vor den Wahlen2 beständig den Liberalen vor, daß sie in Überstürzung Gesetze zustandegebracht haben, die überall im Lande Anstoß erregen und für die Dauer nicht haltbar bleiben. Nun, abgesehen davon, daß solche Gesetze fast ausschließlich durch die Konservativen ihre unglückliche Gestaltung erhalten haben, weil diese für praktische Anschauungen niemals zugänglich waren, wollen wir einmal sehen, ob es wirklich einen liberalen Abgeordneten, ganz gleich welcher Parteistellung, geben wird, der aufgrund dieses ihm von der Regierung gebotenen statistischen Materials für eine solche wichtige Vorlage stimmen wird. Wir wollen und erstreben eine Besserung der Lage der Arbeiter und aller Unbemittelten, wir wollen sie aber nicht in einer Art ausgeführt wissen, daß dadurch der ganze Staat in seinen Grundfesten erschüttert werden kann. Will der Reichskanzler wirklich ernstlich die Lage der unteren Volksklassen verbessern, so mag er erst mit einem wohldurchdachten Programm an die Öffentlichkeit treten, damit man sehen und prüfen kann, wohin seine Wege führen. Hier aber einen Fetzen, und zwar einen solchen, der in gewisser Beziehung am wenigsten genierte, von der großen Frage ablösen und glauben machen wollen, daß das Volk dieser Tätigkeit mit großem Jubel entgegenkommen würde, zeigt, daß man noch sehr weit davon entfernt ist, die Verhältnisse der Unbemittelten gebührend würdigen zu können. “Positive Maßregeln”, die dem armen Manne nehmen ─ das Haftpflichtgesetz entschädigt bekanntlich den Verunglückten voll, das Unfallversicherungsgesetz soll dieses nur zu einem Teil tun ─ statt ihm zu geben, werden weder bei den Unbemittelten, noch bei den liberalen Abgeordneten Anerkennung finden, zumal, wenn sie auf einer statistischen Grundlage aufgebaut sind, die die Regierung sich mit Kurierzuggeschwindigkeit herangeholt hat.

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Registerinformationen

Personen

  • Schäffle, Dr. Albert (1831─1903) Nationalökonom, ehem. österr. Handelsminister
  • 1Die demokratische “Volkszeitung” war 1848 als “Urwählerzeitung” begründet worden, 1853 als solche unterdrückt, unmittelbar darauf aber von dem demokratischen Abgeordneten Franz Duncker als “Volkszeitung. Organ für jedermann aus dem Volke” neu begründet worden; Chefredakteur war Dr. Adolf Phillips. »
  • 2Die Reichstagswahlen fanden am 27.10., die nachfolgenden Stichwahlen am 14.11.1881 statt. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 8, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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