II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

II.

Mit der nachfolgenden Quellenauswahl wird die Sachthematik „Unfallversicherung“, die in der I. Abteilung mit der Dokumentation des Weges „Von der Haftpflichtgesetzgebung zur ersten Unfallversicherungsvorlage“ begonnen wurde, für die Jahre 1881 bis 1884 fortgesetzt. Anders als im vorangegangenen Zeitabschnitt 1867 bis 1881 kommt es in diesem aber nicht nur zu aufgrund regierungsseitiger Initiative erstellten und debattierten Gesetzentwürfen für eine Unfallversicherung ─ erst unter dem Beifall (einiger) schwerindustrieller Kreise, dann unter ihrer zunehmenden Kritik ─, sondern auch zur Verabschiedung eines Reichsgesetzes, das sich in der Praxis als durchführbar und erfolgreich erweist und so Modellfall für eine rasch folgende, sog. Ausdehnungsgesetzgebung wird. Die Praxis (einschließlich der Bildung von Berufsgenossenschaften), wie die Ausdehnung der Unfallversicherung vom Gewerbe auf Verkehrsbetriebe (1885), auf land- und forstwirtschaftliche Betriebe (1886) sowie Bauten und Seeschiffahrt (1887), wird der 2. Teil dieses Bandes dokumentieren. Im Hinblick auf die grundsätzlichen Fragen treten bis zur Jahrhundertwende keine wesentlichen Veränderungen mehr ein: Es bleibt bei den Regelungen, die sich aus sachkundiger Debatte und politischem Streit bis zum 6. Juli 1884 ergeben hatten.

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Ein ganz wesentliches Problem der Quellenauswahl zur Thematik „Unfallversicherung“ war und ist die Fülle des überlieferten Materials. Bei den Quellenbänden mußten daher von vornherein auch Schwerpunkte gesetzt werden, die sich auch aus systematischen Überlegungen bzw. einer ex-post-Sicht ableiten. Der Schwerpunkt des vorangegangenen Bandes der I. Abteilung liegt auf den administrativen Prozessen: Die genaue Dokumentation der weitgehend unbekannten Genese der Grundvorstellungen der bei allen drei Vorlagen mehr oder weniger Beteiligten ─ also Theodor Lohmanns, Louis Baares und Bismarcks ─ und der interne Willensbildungsprozeß erschien uns wichtiger als die des hier weitgehend bekannten parlamentarischen Diskussionsprozesses. Diese Akzentuierung erschien uns auch deshalb gerechtfertigt, weil die Gründe des Scheiterns der ersten Unfallversicherungsvorlage, wie wir nachgewiesen haben, sich nicht allein aus den vorgebrachten sozialpolitischen Gegengründen ergaben und ein erheblicher Teil der diskutierten Probleme durch die Ausgestaltung der zweiten und dritten Unfallversicherungsvorlage keine fortdauernde Bedeutung hatte. Die Dokumentation der parlamentarischen Diskussion, die im Fall der ersten Unfallversicherungsvorlage den veröffentlichten Plenardebatten und vor allem dem Kommissionsbericht im Prinzip vollständig entnehmbar sind, hätte den Rahmen dieses ansehnlichen Bandes weit überschritten; andererseits zwingt er natürlich, das sei eingeräumt, auch noch zum etwas lästigen Rückgriff auf diese bereits gedruckt vorliegenden Quellen.

Bei der Quellenauswahl für diesen, ebenfalls wieder recht umfangreichen Band war hingegen von Anfang an dem Sachverhalt Rechnung zu tragen, daß neben der Genese der regierungsseitigen Abänderungen der Unfallversicherungsvorlagen auch der vielschichtige Prozeß ihrer parlamentarischen Behandlung bis zur Verabschiedung des Gesetzes zu dokumentieren war, da dieser dem veröffentlichten Material kaum zu entnehmen ist: Über die Behandlung der zweiten Unfallversicherungsvorlage wurde kein Kommissionsbericht angefertigt und Ausmaß wie Hintergründe des sog. klerikal-konservativen Kompromisses, der die entscheidende Grundlage der Verabschiedung der dritten Unfallversicherungsvorlage wurde, sind ebenfalls bis heute weitgehend unbekannt geblieben. Damit war zugleich ein neuer exemplarischer Schwerpunkt gegeben, der in besonderem Maße auch den Intentionen Peter Rassows und der Historischen Kommission der Mainzer Akademie entspricht, die die Quellensammlung zur Sozialpolitik zur exemplarischen Dokumentation der Innenpolitik des Deutschen Kaiserreichs54 konzipierten, und gerade diesen innenpolitischen

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Gesichtspunkten haben wir versucht Rechnung zu tragen, auch durch Publikation von Stücken, die zunächst eher randständig erscheinen mögen.55

An den politisch akzeptablen und praktisch funktionsfähigen Regelungen der strittigen Grundfragen hat der Reichstag durch die vor allem in den Kommissionssitzungen zur zweiten Unfallversicherungsvorlage erarbeiteten Gesichtspunkte einen ähnlich großen Anteil wie die Ministerialbürokratie preußischer Provenienz. Aufgabe dieses Quellenbandes konnte es daher nicht sein, nur die regierungsseitigen Initiativen zu zwei weiteren neuen Gesetzesvorlagen zu dokumentieren, sondern auch der Stellenwert des Parlaments als ein Faktor der Genese von „Bismarcks Arbeiterversicherung“ mußte gezeigt werden. Die konkrete parlamentarische Kommissionsarbeit hinter den Kulissen tritt so auch in unserer Quellensammlung der administrativen Kabinettsarbeit an die Seite; ihr Gewicht wird aber nur deutlich, wenn man die jeweils veränderten Paragraphen, vielfach auch nur Absätze, Sätze, Halbsätze oder einzelne Worte mit denen der Regierungsvorlage des dritten Anlaufs systematisch vergleicht (und diese mit der des ersten und zweiten) und auch unsere Hinweise auf die Behandlung einzelner Schriftstücke im Geschäftsgang im editorischen Protokoll beachtet. Die damit für den geneigten Leser zu Anfang sicher verbundene Mühsal, jeweils die springenden Punkte zu finden und zu verfolgen56, haben wir durch etwas analytisch gestaltete Regesten sowie zahlreiche Querverweise und Annotationen unter Heranziehung und Zitation weiterer, vielfach verstreuter zeitgenössischer Quellen57 zu erleichtern versucht; Vollständigkeit konnte damit nicht erreicht werden und wurde in der Regel auch nicht angestrebt.

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„Eher sieht man noch aus den Zeitungen, deren sich die Regierungen ja auch bedienen, und wo man häufiger sagt, was man will [die tatsächlich bestimmenden Faktoren historischer Abläufe]. Doch gehört dazu auch Kenntnis der Verhältnisse. Die Hauptsache aber liegt immer in Privatbriefen und konfidentiellen Mitteilungen, auch mündlichen, was alles nicht zu den Akten kommt.“58 Bismarcks bekanntes Diktum über die Grenzen von Akteninhalten ist, bezogen auf die gleichwohl zentralen Akten von Reichsamt des Innern und Reichskanzlei, leider richtig: Wir haben deshalb wiederum neben diesen Quellen aus den Ministerialakten des Deutschen Reichs auch persönliche Zeugnisse dazu, insbesondere Korrespondenzen und Tagebuchaufzeichnungen der wichtigsten Akteure, aufgenommen. Diese liefern vielfach wichtige Hintergrundinformationen, sind aber letztlich auch sehr der administrativen Sphäre verhaftet.59 Die Verbindung zum parlamentarisch-politischen Raum ist damit meist aber noch nicht hergestellt. So ist den Ministerialakten, abgesehen von Bismarcks Direktiven ─ meist in Form von Bleistiftmarginalien60 ─ und eingehefteten Volkswirtschaftsrats-, Bundesrats- und Reichtagsdrucksachen kaum etwas über die Vorgänge auf der eigentlichen politischen Entscheidungsebene zu entnehmen, obwohl die parlamentarischen Beratungen von der Kommission bis hin zum Plenum immer von Bundesratsbevollmächtigten und Regierungskommissaren ─ in der Regel waren das die Referenten der federführenden Ressorts ─ begleitet und beeinflußt wurden. Ein Glücksfall ist es da, daß die im Bundesarchiv, Abt. Potsdam, überlieferten Reichstagsakten auch die Sitzungsprotokolle der Kommissionen sowie die einzelnen Anträge enthalten und die „Zeitschrift für Versicherungswesen“ aus den Kreisen der Kommissionsmitglieder einen Informanten hatte und ebenso kenntnisreich wie gut lesbar über den Verlauf der Kommissionssitzungen berichtete. Diese ─ wie an der Parallelüberlieferung feststellbar ─ recht zuverlässigen, wenn auch etwas pro domo Privatversicherung (und entsprechend regierungskritisch abgefaßten) Berichte haben wir weitgehend in unsere Quellensammlung aufgenommen, ist doch diese Zeitschrift selbst nur noch in zwei Bibliotheken überliefert. In der Regel verdienen diese Berichte gegenüber dem durchgängigen Abdruck der Sitzungsprotokolle den Vorzug, weil sie stilistisch besser und auch knapper (sie integrieren die jeweiligen

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Anträge) sind als die in sich sehr heterogen geführten Protokollniederschriften. Manchmal sind jene auch mit interessanteren Details versehen, weniger geschönt als die Sitzungsprotokolle ─ im umgekehrten Fall haben wir dies in [ ] und in den Anmerkungen ergänzend dokumentiert. Man gewinnt den Eindruck, daß die Protokollführung bei den Kommissionsmitgliedern nicht gerade beliebt und die Übung in diesem Geschäft sehr unterschiedlich war. Die oft mehrstündigen Debatten sind alles andere als vollständig oder gar wörtlich protokolliert worden. Der Vollständigkeit halber sei noch darauf hingewiesen, daß für die Auseinandersetzungen um die dritte Unfallversicherungsvorlage der Kommissionsbericht des Freiherrn v. Hertling ─ in der Kommission verlesen, teilweise abgeändert und schließlich „verabschiedet“, dann in Form einer heute allgemein zugänglichen Reichstagsdrucksache61 publiziert ─ mitunter zusätzlich mit Gewinn zu Rate gezogen werden kann.

Sind somit schon die Grenzzonen zwischen Regierung und Parlament schwer dokumentierbar, so gilt das erst recht für die Parteiinterna selbst. Trotz mannigfacher Bemühungen ist es uns nicht gelungen, im Hinblick auf diese über den ─ allerdings wohl recht guten ─ Informationsstand von badischen und bayerischen Gesandten und Bundesratsbevollmächtigten sowie veröffentlichten Parteikorrespondenzen hinauszukommen, ein den Baare-Handakten vergleichbarer glücklicher Fund zu Industrielleninterna wie für den vorangegangenen Band gelang für diesen zu innerparteilichen Diskussionen62 nicht. Der interne Verlauf von Fraktions- bzw. Parteiverhandlungen zum Thema Unfallversicherung ist, ebenso wie die informelle Zusammenkünfte von Spezialisten der maßgebenden Parteien, auch nicht an nur einem Dokument nachvollziehbar, sofern man von Ergebnissen wie dem liberalen Entwurf eines Unfallhaftpflichtgesetzes absieht. Hingewiesen sei nur darauf, daß die brillanten Redner in den Plenardebatten sich an der Kärrnerarbeit in den Komissionen nicht immer beteiligt haben und die jeweiligen politischen Meinungsführer der Fraktionen ihre Meinung in den Kommissionen so gut wie nie äußerten, so verließen etwa Frhr. v. Maltzahn-Gültz (von den Konservativen), Frhr. v. Franckenstein und Dr. Heinrich Marquardsen (von den Nationalliberalen) praktisch nie ihre (nur?) taktische Reserve, äußerten sich nicht zu den strittigen Sachfragen, überließen das (und den Verschleiß) ihren sozialpolitischen Experten wie etwa dem impulsiven Arnold Lohren, dem von Theodor Lohmann wohl intern beratenen Frhr. Georg v. Hertling und dem kenntnisreichen Dr. Franz Armand Buhl.

Innerhalb der Reichsregierung sind die relevanten Gedanken und Handlungen von Bismarck, Bosse und Lohmann, soweit schriftlich überliefert, nahezu vollständig dokumentiert worden, die Eduard Magdeburgs, Karl Gamps und Tonio Bödikers jeweils an den wichtigen Schaltstellen im administrativen Getriebe. Relativ [ Druckseite XXXVIII ] dunkel bleibt (notgedrungen) der persönliche Anteil Karl Heinrich von Boettichers, der ein intensives Krisenmanagement betrieb, dessen Auswirkungen für den Fortgang der Regierungs- und Gesetzgebungsarbeit kaum überschätzt werden können, im übrigen aber wohl ─ anders als Theodor Lohmann ─ kaum eigene Kompetenz und Vorstellungen zur Sache entwickelt hat. Von den außeradministrativen Ratgebern Bismarcks ist dann ─ entsprechend dem Vorgehen bei Louis Baare im vorangegangenen Band ─ der Dokumentation von Auffassung und Rolle Albert Schäffles relativ viel Raum gegeben. Im Hinblick auf die (gern überschätzte) Rolle beider ist wohl Werner Frauendienst zuzustimmen, daß Bismarck „sich weder durchschaut, noch beraten wissen wollte“63. Im Fall Schäffle scheint es so zu sein, daß dieser Bismarck den entscheidenden Hinweis durch einen in der „Augsburger Allgemeinen“ veröffentlichten Artikel gab64, bevor sein weiterer ausdrücklicher Rat gesucht wurde, vielleicht war die Bitte um Mitwirkung in erster Linie ein Stück Courtoisie und Dankbarkeit gegenüber einem ahnungslosen Außenseiter in seinem politischen Spiel. Vor allem hat er Bismarck wohl auf den diesem bis dato wohl unbekannten, zumindest nicht beachteten Finanzierungsmodus Umlageverfahren (statt Kapitaldeckungsverfahren) hingewiesen, der im Knappschaftsbereich damals durchaus gang und gäbe war und der von da an ganz zentral für die Ausgestaltung der öffentlich-rechtlichen Unfallversicherung wurde, nach Inflationserfahrungen und der Rentenreform von 1957 ist er geradezu typisch für alle Zweige der Sozialversicherung. Sodann spricht einiges dafür, daß Schäffles nachhaltiges Insistieren auf einer Priorität der Krankenversicherung gegenüber der Unfallversicherung dazu beigetragen hat, daß Bismarck seinen unbotmäßigen Referenten Lohmann in dieser Hinsicht im Frühjahr 1882, der entscheidenden Phase der öffentlichen Vorlage der „Grundzüge“ und des diesen folgenden Gesetzentwurfs, gewähren ließ.

Für das „System Bismarck“ charakterisch ist neben dem offiziellen Handlungssektor der inoffizielle, halboffizielle und offiziöse ─ vor allem der einer gelenkten Presse innerhalb einer durch Parteiblätter gekennzeichneten Presselandschaft. Diese Politik mittels inspirierter Presse, insbesondere der, wie sie die Zeitgenossen nannten, „freiwillig-gouvernementalen“ à la „Norddeutsche Allgemeine Zeitung“, von dem westfälischen Bauernführer und Zentrumsabgeordneten Burghard Frhr. v. Schorlemer-Alst als „des Reiches allergrößter Mistwagen“ tituliert65, konnte auch nur an ausgewählten Beispielen demonstriert werden, nicht zuletzt auch im Umfeld des „Lohmann-Konflikts“, bei dem allerdings auch ─ merkwürdige und Bismarck höchst verdächtige ─ Indiskretionen gegenüber der linksliberalen und zentrumsnahen Presse vorkamen.66 Überhaupt ist die zeitgenössische Tagespresse in der Regel [ Druckseite XXXIX ] recht gut über interne Abläufe informiert gewesen, ihr genaues Studium ist für das richtige Verständnis der „unpolitischen“ Akten oft sehr hilfreich.

Im übrigen waren, soviel sei nur angedeutet, auch die quasi politischen Friktionen und Konflikte in der Administration selbst ─ für diese möge nur die Haltung Theodor Lohmanns und die personellen Konsequenzen daraus (erst v. Boettichers mit Eduard Magdeburg, dann die v. Bismarcks mit Karl Gamp) stehen ─ aus den Akten (allein) nur schwer zu erschließen; aus Memoiren, Mitteilungen gegenüber den eifrigen Gesandten und dem unermüdlichen Bismarcksammler Heinrich v. Poschinger67 sowie Nachlässen ließ sich hier aber das eine oder andere Dunkel etwas erhellen; in der Regel haben wir, wie bereits erwähnt, die jeweiligen Haupttexte durch entsprechende Zitate dieser „Nebenquellen“ erläutert. Bei zwei zentralen Textdokumenten, die die Rolle Eduard Magdeburgs betreffen68, haben wir uns entschließen müssen, auch mit Hypothesen zu arbeiten ─ nicht zuletzt deshalb, weil schlicht versäumt wurde, diesen beteiligten Zeitzeugen zu befragen, der erst im Jahr 1932 im hohen Alter von 87 Jahren verstarb, also beim ersten Anlauf der vom historischen Interesse getragenen Quellenforschung zur Bismarckschen Sozialpolitik noch lebte. Die wichtigsten nichtamtlichen Quellen waren für uns die Aufzeichnungen und Erinnerungen Robert Bosses und der Nachlaß Theodor Lohmanns, der auch einige Papiere amtlichen Charakters enthält, die in den Akten fehlen. Beide Geheimräte, die der gleichen informellen Gruppierung im Reichsamt des Innern zuzurechnen sind69, gehörten allerdings nicht zum Arkanbereich der Kanzlermacht, so daß die politischen Geheimnisse, die sie lüften können, von vornherein begrenzt sind.

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So hoffen wir, daß auch dieser Band einige neue Erkenntnisse bieten wird, zumal ─ anders als die Auseinandersetzungen um die erste Unfallversicherungsvorlage ─ die Vorgänge und Hintergründe um die zweite und erst recht die um die dritte Unfallversicherungsvorlage in den vorliegenden Darstellungen meist nur knapp, wenn nicht fehlerhaft behandelt worden sind.70 Der von Hans Rothfels so eingängig wie personal isolierend dargestellte Konflikt zwischen Bismarck und Lohmann hat die Historiker bis heute mehr fasziniert als ein funktionsfähiges und tatsächlich grundlegendes Arbeiterversicherungsgesetz ohne Reichszuschuß und ohne Arbeiterbeitrag, letzteres war ein für Bismarck entscheidendes Axiom! Man muß sich jedoch hüten, die Abläufe zu sehr zu personalisieren, das ist zwar in gewisser Weise naheliegend, trifft aber nicht unbedingt sicher den historischen Kern der Sache. Bei jeder Personalisierung muß bedacht werden, daß man beim Aktenstudium immer nur auf handelnde oder schreibende Personen, weniger auf die dieses Handeln bedingenden Faktoren stößt, dann aber auch, daß es zu Bismarcks bekannter Eigenart, vielleicht auch Herrschaftstechnik gehörte, jede sachliche Einwendung und Auseinandersetzung zu personalisieren.71 Aber auch nach dieser Reflexion ist ein interessantes Stück „persönlicher Einflußnahme“ als adäquate Kausalität bei der Entstehung der öffentlich-rechtlichen Unfallversicherung festzustellen, das der sozialgeschichtlichen Verortung noch harrt.72

Die Fülle des Materials insgesamt bedingte, daß zugunsten der Dokumentation des Gesetzgebungsprozesses die Dokumentation der statistischen Arbeiten für die zweite und dritte Unfallversicherungsvorlage und die der Reaktion der betroffenen privaten Versicherungswirtschaft ─ in diesen Jahren generell von Verstaatlichung bedroht! ─ weitgehend vernachlässigt werden mußte. Für diese Entscheidung war nicht zuletzt die Erwägung ausschlaggebend, daß empirisch gesicherter Erkenntnis im Verhältnis zu Erfahrung, schlichter Spekulation und normativer Setzung im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens ─ vor allem, nachdem Bismarck sich für das Umlageverfahren entschieden hatte ─ keine entscheidende Bedeutung zukam und den angefertigten Statistiken mangels repräsentativer bzw. valider und sinnvoller [ Druckseite XLI ] Daten keine wesentliche Bedeutung für die theoretisch oft beschworene, empirisch aber kaum eingelöste Abfolge von Problem, Problemdruck, -wahrnehmung und -verarbeitung zukommt.73 Darüber hinaus bedürfen die Erfahrungen der Unfallopfer mit den Geschäftspraktiken der privaten Unfallversicherungen (Aktiengesellschaften und Genossenschaften) einerseits, mit den staatlichen Eisenbahnverwaltungen, für die unter dem Reichshaftpflichtgesetz von 1871 eine Form der von den liberalen Parteien (und Theodor Lohmann) ursprünglich vorgeschlagene Gefährdungshaftung galt, andererseits, noch eingehender Quellenforschung. Über den Umfang dieses privaten Versicherungsschutzes, das Verhältnis haftpflichtiger zu nichthaftpflichtigen Unfällen, Prozeßdauer und -ausgang usw. gibt es kaum gesicherte Statistiken, sondern nur von der wissenschaftlichen Literatur bis heute übernommene und als gesichert dargestellte Schätzungen Louis Baares und persönliche Wahrnehmungen dreier Fabrikinspektoren.74 Hinzu kommen dann von „interessierter“ Seite vorgetragene Behauptungen und ─ zulässig, unzulässig ─ verallgemeinerte Einzelfälle, die durch die Presse gingen und ihrerseits eine politische Realität wurden. Dazu können wir nur eine exemplarische Sequenz bringen.75

  • 54Es sei nicht verschwiegen, daß angesichts der Materialfülle die vielschichtigen Prozesse gleichwohl nicht vollständig dokumentiert werden. Vernachlässigt werden mußten nicht nur die Plenardebatten im Reichstag, sondern auch die Beratungen und Abstimmungen im preußischen Volkswirtschaftsrat und im Bundesrat, d. h. diese mußten etwas in den Hintergrund treten bzw. erscheinen nur teilweise, indirekt und in Fußnotenzitaten. Das ist ─ wie schon im vorangegangenen 2. Band der I. Abteilung ─ vor allem bei dem preußischen Volkswirtschaftsrat bedauerlich, ist dieser doch eine Einrichtung, die im systemtypischen Kontext zur Formierung von Interessenverbänden als politischen Organen steht. Andererseits liegen hier kaum interne Informationen vor, die über das hinausgehen, was in den Protokollen steht, die im „Reichsanzeiger“ publiziert wurden und im übrigen ─ wie die Bundesratsdrucksachen und Protokolle ─ auch im allgemeinen Fernleihverkehr beschaffbar sind. Der Volkswirtschaftsrat ist ─ entsprechend seiner Bestimmung ─ vor allem als Sprachrohr und Transmissionsriemen ökonomischer Interessen von Handel, Gewerbe und Industrie interessant, wenngleich er ─ ebenso wie der „Zentralverband deutscher Industrieller“ oder die „Nordwestdeutsche Gruppe“ ─ nicht repräsentativ im statistischen Sinne war, waren doch die meisten seiner Mitglieder nicht nur als „pro schutzzöllnerisch“ vorgeschlagen, sondern auch von Bismarck sozusagen handverlesen! Allerdings reichte der Einfluß dieser Interessenten wohl nicht aus, um grundlegende Bestimmungen der jeweiligen Vorlagen wesentlich abzuändern, eher handelte es sich immer um eine Weiterentwicklung der Vorlagen im Sinne der Regierung ─ als das nicht mehr der Fall war (beim Tabakmonopol), verlor er an Bedeutung im politischen Spiel. Überhaupt bedarf das Kapitel „Arbeiterversicherung und Industrie“, also das Verhältnis von politischem zu ökonomischem Kalkül bzw. das von Regierungs- und Parteipolitik zu Interessenpolitik, noch mehr intensiver Quellenforschung in Archiven und Nachlässen; die Stellung Louis Baares, der rheinisch-westfälischen Schwerindustrie bis hin zum Zentralverband deutscher Industrieller war in diesem Kontext prekärer und umstrittener als es sich aus den zeitgenössischen Veröffentlichungen und vor allem der großen Darstellung des Mitbeteiligten Henry A. Bueck über den „Centralverband“ ─ eine unentbehrliche prodomo-Darstellung, die auf teilweise nicht mehr vorhandene Quellen gegründet ist ─ ergibt. »
  • 55Vgl. etwa Nr. 146. »
  • 56Christoph Conrad stellt zu Recht gegenüber der bisherigen Literatur fest: „Angesichts der existentiellen Bedeutung selbst kleiner sozialrechtlicher Feineinstellungen im Leistungsniveau oder Berechtigtenkreis reicht die gängige Argumentation in der Literatur nicht aus“ (Vom Greis zum Rentner, S. 244). »
  • 57Die Zitate aus zeitgenössischen Quellen in den Nebentexten sind in diesem Band kursiv gedruckt worden, nicht mehr ─ wie im vorangegangenen Band ─ in Anführungszeichen. Das ist Folge der nunmehr endgültigen Editionsprinzipien (Abdruck in Bd. 1 der I. Abteilung dieser Quellensammlung, S. 59 ff.), die insoweit von der vorläufigen Fassung abweichen. ─ Im übrigen hoffen wir, daß die ausführlichen Regesten in der Titelei und die Querverweise im Fußnotenapparat das im 2. Teil folgende Gesamtregister für diesen Band zunächst entbehrlich machen. »
  • 58Moritz Busch, Tagebuchblätter, Bd. 2, Leipzig 1899, S. 171. »
  • 59Wie in den vorangegangenen Bänden sind ─ bis auf das Schlußbeispiel (Nr. 187) ─ diese „persönlichen“ Quellen in der Regel nicht im vollen Wortlaut abgedruckt, sondern nur in den sachbezogenen Teilen; der Verzicht auf an sich zusätzlich aufschlußreiche Einblicke in „private“ Meinungen und Verhaltensweisen preußischer Beamter vom eigenständig-renitenten Aufsteiger Theodor Lohmann bis zum streberhaften Anpasser Tonio Bödiker war notwendig, um den Umfang der Bände nicht noch weiter zu erhöhen! »
  • 60Diese sind ─ anders als die übrigen Quellentexte ─ in der Schreibweise nicht modernisiert worden. Ausschlaggebend dafür war nicht, daß Bismarck sich öffentlich gegen die preußische Schulorthographie von Wilhelm Wilmanns (1880) ausgesprochen und deren Anwendung bei den Behörden „bei gesteigerten Ordnungsstrafen“ verboten hatte, sondern daß so ggf. leichter die Richtigkeit unserer Umschrift überprüft werden kann, da das Bild der alten Schreibweise von der modernisierten Form teilweise erheblich abweicht. »
  • 61Sten.Ber.RT, 5. LP, IV. Sess. 1884, Bd. 4, Aktenstück Nr. 115, S. 858─888. »
  • 62In den Nachlaß des Frhr. v. Franckenstein wurde uns eine Einsicht nicht ermöglicht, die im Bundesarchiv Koblenz überlieferten Nachlässe von Dr. Georg Frhr. v. Hertling und Dr. Franz Armand Buhl sind für den uns interessierenden Zeitraum sehr lückenhaft. Möglich sind allerdings einige weiterführende Überlieferungen in den Nachlässen von Dr. Ernst Lieber (in Warschau) sowie in der umfangreichen Windhorst Korrespondenz im Alexander-Reuß-Nachlaß im Bisturnsarchiv Trier, deren Auswertung aus (zeit)ökonomischen Gründen unterblieb. »
  • 63So wohl treffend Werner Frauendienst in seiner Einleitung zu „Die geheimen Papiere Friedrich von Holstein“, Bd. 1, S. XXI. »
  • 64Vgl. dazu Nr. 9 Anm. 3. »
  • 65Vgl. Ferdinand Knie, Geistesblitze. Die geflügelten Worte und Citate des deutschen Volkes für Deutschlands Katholiken zusammengestellt, Paderborn 1887, S. 963. »
  • 66Die bisherigen Darstellungen zur Pressepolitik Bismarcks vermitteln hier weniger weitergehende Informationen als die Arbeiten Heinrich von Poschingers. Im übrigen findet sich eine weitgehende (und recht weit führende!) Auswertung der Regierungs- wie Parteipresse bei Otto Quandt, Die Anfange der Bismarck’schen Sozialgesetzgebung und die Haltung der Parteien. Das Unfallversicherungsgesetz 1881─1884, Berlin 1938. »
  • 67Heinrich von Poschingers „Aktenstücke zur Wirtschaftspolitik des Fürsten Bismarck“, Berlin 1890/91, die den Zeitraum 1862 bis 1884 umfassen, sind damit im Hinblick auf ihren sozialpolitischen Gehalt durch die Arbeit der Kasseler Arbeitsstelle der Mainzer Akademie nach über einem Jahrhundert der „Gültigkeit“ im wesentlichen überholt, für sich als Dokument sind sie jedoch nach wie vor von Interesse, im Vergleich zu ihrem positiven Ertrag (auch in der etwas ausführlicheren Annotierung) wiegen ihre wenigen (meist sinnvollen, aber nicht gekennzeichneten) Auslassungen und die bei einer „nebenamtlichen“ Produktivität seiner Dimension wohl unvermeidlichen Fehler nicht schwer. Im Hinblick auf die von uns zwischenzeitlich genauer nachweisbare Genese bzw. die Ermittlung des Entwurfs von Bismarcks Schreiben an Friedrich Graf v. Eulenburg vom 18.3.1863 (vgl. im Anhang, S. 654) muß allerdings v. Poschingers Aussage in Zweifel gezogen werden, daß er nur solche Stücke aufgenommen hat, „hinsichtlich deren dem Fürsten Bismarck auch bei der peinlichsten Prüfung das geistige Eigentum nicht bestritten werden kann“, unsere These, daß der konzeptionell-persönliche Anteil Bismarcks an der Frühphase sozialpolitischer Ansätze eher gering anzusetzen ist, wird durch dieses Beispiel allerdings eher bestätigt! »
  • 68Vgl. Nr. 41 u. 97. »
  • 69Diese besondere Vertrautheit und Zusammenarbeit entstand wohl aus gemeinsamen (positiven) Erfahrungen mit der hannoverschen Landeskirche und Religiosität bis hin zur Vorliebe für den gleichen Pastor und Stammtisch, dann aber auch aus einer symbiotischen Entsprechung des selbstsicheren Fachexperten Theodor Lohmann, der lieber aus der zweiten Reihe heraus „Politik“ machte, und dem vielfach verzagten Abteilungsdirektor Bosse, dessen konzeptionelle Leistungen beschränkter waren, vgl. dazu die in Anm. 19 genannte Darstellung. Im übrigen verband Bosse wiederum mit seinem vorgesetzen Minister bzw. Staatssekretär v. Boetticher eine Duzfreundschaft aus der Zeit des gemeinsamen Wirkens in der Provinz Hannover bzw. beim Hannoverschen Beamtenverein. »
  • 70Die insgesamt informativste monographische Arbeit ist die von von Otto Quandt, Die Anfänge... (vgl. Anm. 66), selbst wenn sie in den deutlich erkennbaren Wertungen einseitig, d.h. gegen „Parteipolitik“ als essentieller Bestandteil demokratischer Auseinandersetzung gerichtet ist; immerhin werden darin Parlament und Parteien der ihnen zukommende Stellenwert eingeräumt, während dieser in der bis jüngst als bisher beste Darstellung von Bismarcks Sozialpolitik gepriesenen Monographie Walter Vogels über „Bismarcks Arbeiterversicherung“ (Braunschweig 1951) „systematisch“ ausgeblendet ist, der Verfasser also Aktenlogik und Zeitgeist gleichermaßen unkritisch folgt! Das Parlament haben beide Autoren sozusagen links liegen gelassen. »
  • 71Vgl. dazu die Beispiele bei Hans Goldschmidt, Das Reich und Preußen im Kampf um die Führung, Berlin 1931, S. 47. »
  • 72In dieser Hinsicht ist der von Gerhard A. Ritter demonstrierte integrierte Ansatz zur Erklärung der Entstehung der Sozialversicherung in Deutschland (Gerhard A. Ritter, Sozialversicherung in Deutschland und England. Entstehung und Grundzüge im Vergleich, München 1983) sicher der wegweisend richtige, ohne Bismarcks persönliche Einflußnahme läßt sich Deutschlands Weg zum Sozialstaat nicht hinreichend erklären, deren Spezifik zu charakterisieren bedarf allerdings noch mehr historischer Empirie an den Quellen als sie bislang geleistet wurde. »
  • 73Das steht in einem interessanten Kontrast zur mittels Enqueten betriebener Empirie auf dem Sektor der Frauen- und Kinderarbeit, also des Arbeiterschutzes, vgl. dazu den von Wolfgang Ayaß bearbeiteten Bd. 3 der I. Abteilung dieser Quellensammlung „Arbeiterschutz“ (1995). »
  • 74Fast wie ein Treppenwitz der Weltgeschichte mutet es an, daß der von den Versicherungsexperten argumentativ in die Enge getriebene Vertreter Bismarcks ─ Staatssekretär v. Boetticher ─ zur Begründung der Ablehnung von Privatgesellschaften ausgerechnet auf die von Bismarck wenig geschätzten Berichte der Fabrikinspektoren zurückgriff bzw. zurückgreifen mußte, vgl. Nr. 158 Anm. 3. »
  • 75Vgl. Nr. 45 und 46. Reizvoll wäre es zu untersuchen, inwieweit Bismarcks Vertrauen auf eine weniger restriktive Staatsverwaltung in dem Entschädigungsverhalten der prcuß. Eisenbahnverwaltungen zu § 1 Reichshaftpflichtgesetz einen Anhalt hatte! Die von Bismarck mit der öffentlich-rechtlichen Unfallversicherung auch verfolgte Strategie zur Vermeidung von negativen Prozcßerfahrungen von Arbeitgebern wie Arbeitern war wohl nur begrenzt erfolgreich, d. h. im Hinblick auf die Höhe der Entschädigungsleistungen bzw. Renten, nicht aber im Hinblick auf den Rechtsgrund der Leistung, waren doch elementare Grundbegriffe wie Beschäftigungsverhältnis („beschäftigte Arbeiter“), Arbeitsunfall und Kausalität („Folgen der bei dem Betriebe sich ereignenden Unfälle“) gesetzlich nicht geklärt, vor allem war auch die Kausalitäts- bzw. Schadenszurechnungsproblematik mit dem Wechsel vom privaten ins öffentliche Recht keineswegs beseitigt. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Abschnitt 5, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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