II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 185

1884 Juli 5

Immediatbericht1 des Reichskanzlers Otto Fürst von Bismarck an den Deutschen Kaiser Wilhelm I.

Ausfertigung

[Information über die vom Reichstag vorgenommenen Abänderungen der Regierungsvorlage]

DerEntwurf des Unfallversicherungsgesetzes ist von dem Reichstag in der aus der Anlage ersichtlichen Fassung angenommen worden.2

Die Abweichungen, welche diese Fassung gegenüber der Regierungsvorlage ergibt, lassen die wesentlichen Grundlagen der letzteren, namentlich die obligatorische Versicherung der in den versicherungspflichtigen Betrieben beschäftigten Arbeiter gegen die Folgen der Betriebsunfälle, die Organisation von Berufsgenossenschaften als Trägern der Versicherungslast, die Einsetzung von Schiedsgerichten zur Entscheidung der Streitigkeiten zwischen den Entschädigungsberechtigten und den Genossenschaften, die Auszahlung der Entschädigungen durch die Post, endlich die Errichtung des Reichsversicherungsamts zur Durchführung des Gesetzes unberührt.

Von Erheblichkeit sind die beschlossenen Abänderungen in folgenden Punkten3:

1. Den nach § 1 versicherungspflichtigen Betrieben sind durch die Beschlüsse des Reichstags die Gewerbebetriebe der Maurer, Zimmerer, Dachdecker, Steinhauer, Brunnenmacher und Schornsteinfeger hinzugefügt worden. Diese Erweiterung des Kreises der unter den § 1 fallenden Betriebe lag von vornherein in der Absicht der verbündeten Regierungen. Nur glaubten die letzteren, die Aufgabe nicht gleich im Anfange zu weit stecken und die Durchführung der Organisation dadurch erschweren zu sollen. Es kam ihnen darauf an, zunächst die unter das Haftpflichtgesetz vom 7. Juni 1871 fallenden Betriebe für versicherungspflichtig zu erklären und damit den zersetzenden Haftpflichtprozessen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ein Ende zu machen. Für die Baugewerke sollte die Unfallversicherung möglichst bald durch Nachtragsgesetze geregelt werden. Der Reichstag hat diese Ausdehnung der Wirksamkeit des Gesetzes schon jetzt vorgenommen.

2. In dem Falle einer Körperverletzung beginnt die Fürsorgepflicht der Berufsgenossenschaften nach dem Gesetzentwurf erst mit dem Beginn der vierzehnten Woche nach Eintritt des Unfalls; bis dahin haben die Krankenkassen beziehungsweise die Gemeindekrankenversicherung für den Verletzten zu sorgen. Nun besteht aber für die vorübergehend beschäftigten Arbeiter sowie für solche Personen, deren Beschäftigung im voraus auf eine Zeitdauer von weniger als einer Woche beschränkt [ Druckseite 635 ] ist, der Krankenversicherungszwang nicht. Die sich hieraus ergebende Lücke hat der Reichstag in dem § 5 des Entwurfs durch die Bestimmung ausgefüllt, daß der Betriebsunternehmer den bezeichneten Personen die in den §§ 6 und 7 des Krankenkassengesetzes vorgesehenen Unterstützungen für die ersten dreizehn Wochen aus eigenen Mitteln zu leisten haben soll.

3. Eine prinzipiell wichtigere Abweichung von der Vorlage besteht in dem zu § 5 ferner gefaßten Beschlusse, daß vom Beginn der fünften Woche nach Eintritt des Unfalls bis zum Ablauf der dreizehnten Woche das Krankengeld, welches den durch einen Betriebsunfall verletzten Personen aufgrund des Krankenversicherungsgesetzes gewährt wird, auf mindestens zwei Drittel ─ statt wie bei der Krankenversicherung auf die Hälfte ─ des bei der Berechnung des Krankengeldes zugrunde gelegten Arbeitslohnes zu bemessen ist, und daß der sich hiernach ergebende Mehrbetrag von dem Betriebsunternehmer aus eigenen Mitteln zuzuschießen ist.

4. Eine vierte ebenfalls arbeiterfreundliche Abänderung der Regierungsvorlage endlich betrifft den im Falle der Tötung zu leistenden Schadensersatz (§ 6). Abgesehen von der Fixierung eines Minimums für das Sterbegeld ─ auf 30 M ─ sind die Renten für die hinterbliebenen Kinder von 10 beziehungsweise 15 auf 15 beziehungsweise 20 Prozent des Arbeitsverdienstes, und ist das Maximum der an die Witwe und die Kinder zusammen zu zahlenden Rente von 50 auf 60 Prozent erhöht worden; auch hat der Reichstag im Gegensatz zur Regierungsvorlage einen Entschädigungsanspruch der Kinder selbst für den Fall anerkannt, daß die Ehe erst nach dem Unfall geschlossen worden ist.

5. Während die Regierungsvorlage die Ansammlung eines mäßigen Reservefonds in das freie Ermessen der Berufsgenossenschaften stellte, hat der Reichstag den § 18 dahin gefaßt, daß die letzteren verpflichtet sind, einen Reservefonds in Höhe des doppelten Jahresbedarfs anzusammeln, und daß es ihnen freisteht, mit Genehmigung des Reichsversicherungsamts den Reservefonds noch weiter zu erhöhen.

6. Die Regierungsvorlage hatte die Bildung selbständiger Arbeiterausschüsse vorgesehen, welche aus der Wahl der den Krankenkassenvorständen angehörenden Arbeiter hervorgehen und berufen sein sollten, die Hälfte der Beisitzer zum Schiedsgericht zu wählen, bei der Untersuchung von Unfällen mitzuwirken, die zur Verhütung von Unfällen zu erlassenden Vorschriften zu begutachten und zwei nichtständige Mitglieder des Reichsversicherungsamts zu wählen.

Die überwiegende Mehrheit des Reichstags versagte dieser für bestimmte Zwecke geplanten Organisation der Arbeiter die Zustimmung. Ohne die den letzteren zugedachten Befugnisse (§§ 41, 45) zu schmälern oder den in Vorschlag gebrachten Wahlmodus (§ 42) abzuändern, hat der Reichstag an die Stelle der Arbeiterausschüsse eine Vertretung der Arbeiter gesetzt, welche, soweit es sich nicht um Wahlen oder um die Teilnahme an der Untersuchung der Unfälle handelt, in Gemeinschaft mit den Organen der Berufsgenossenschaften beraten und beschließen soll (§§ 79, 81).

7. Nach der Regierungsvorlage sollte das Reichsversicherungsamt die Organisation der Berufsgenossenschaften leiten, die letzteren beaufsichtigen, entstehende Streitigkeiten entscheiden, überhaupt die Ordnung innerhalb der Gesamtorganisation aufrechterhalten. Der Reichstag hat hierin eine Abänderung insofern beschlossen, als die einzelnen Landesregierungen ermächtigt sein sollen, zum Zweck [ Druckseite 636 ] der Beaufsichtigung solcher Berufsgenossenschaften, welche sich über das Gebiet des betreffenden Bundestaats hinaus nicht erstrecken, Landesversicherungsämter zu errichten: mit der Konsequenz, daß für den Fall später eintretender Leistungsunfähigkeit dieser Genossenschaften die Landesgarantie an die Stelle der Reichsgarantie tritt (§§ 92, 93). Der Reichstag ist hierin dem Vorgange Württembergs gefolgt, welches in den Vorstadien der Beratung des Entwurfs einen Antrag auf Errichtung von Landesversicherungsämtern gestellt und für denselben die Majorität in den Bundesratsausschüssen gefunden hatte.

Inzwischen erscheint es unwahrscheinlich, daß die Einrichtung von Landesversicherungsämtern zu nennenswerter Bedeutung gelangen sollte, da die Leistungsfähigkeit die erste Bedingung für die zu errichtenden Genossenschaften bildet, und da, abgesehen von Preußen, nur wenige leistungsfähige Berufsgenossenschaften zustande kommen dürften, welche auf das Gebiet eines einzelnen Bundesstaates beschränkt sind.

8. Im übrigen hat der Reichstag die Zusammensetzung und die Befugnisse des Reichsversicherungsamts unberührt gelassen. Nur für diejenigen Fälle, in denen es sich um die Entscheidung vermögensrechtlicher Streitigkeiten bei Veränderung des Bestandes der Genossenschaften oder um die Entscheidung auf Rekurse gegen die Entscheidungen der Schiedsgerichte handelt, hat derselbe noch eine fernere Änderung der Vorlage dahin beschlossen, daß in jenen Fällen die Beschlußfassung unter Zuziehung von zwei richterlichen Beamten erfolgen soll (§ 90).

Das Reichsversicherungsamt würde in diesen Fällen in derselben Stärke besetzt sein wie die Senate des Reichsgerichts, was sich mit Rücksicht auf die Wichtigkeit der Entscheidungen, welche in Frage kommen können, und auf den endgültigen Charakter derselben wohl rechtfertigen läßt.

9. Im Interesse der Knappschaftsverbände, deren Bestand und Einrichtungen auch für die Zwecke der Unfallversicherung nach den Ausführungen in den Motiven der Regierungsvorlage möglichst geschont werden sollen, hat der Reichstag einen neuen Paragraphen (94) eingeschoben, welcher jenen Gedanken besonders zum Ausdruck bringen soll.

Die übrigen Abweichungen der Beschlüsse des Reichstags von der Regierungsvorlage bestehen, soweit sie nicht lediglich redaktioneller Natur sind, in solchen Zusätzen und Abänderungen, welche entweder in der Richtung der Grundgedanken der Vorlage liegen oder Konsequenzen der vorstehend dargelegten Änderungen der letzteren sind.

Der Bundesrat hat die von der Vorlage abweichenden Beschlüsse des Reichstags einer eingehenden Prüfung unterzogen. Dabei konnte allerdings nicht verkannt werden, daß von den oben bezeichneten Abweichungen keine einzige eine Verbesserung der Vorlage enthält. Auf der anderen Seite erschienen dieselben nicht von solcher Bededeutung, daß es gerechtfertigt wäre, um ihretwillen dem vorliegenden Gesetzentwurf als einem weiteren Schritte auf dem Wege der sozialpolitischen Reform die Zustimmung zu versagen.

Der Bundesrat hat daher dem Gesetzentwurf in der vom Reichstag beschlossenen Fassung die Zustimmung erteilt.4

[ Druckseite 637 ]

Eurer Majestät gestatte ich mir demgemäß die anliegende Ausfertigung des Unfallversicherungsgesetzes sowie die Ausfertigung des auf die Dotierung des Reichsversicherungsamts bezüglichen, vom Reichstag unverändert angenommenen Gesetzes, betreffend die Feststellung eines zweiten Nachtrags zum Reichshaushaltsetat für das Etatsjahr 1884/85 mit der ehrfurchtsvollen Bitte um huldvolle Vollziehung alleruntertänigst zu überreichen.

Registerinformationen

Personen

  • Buhl, Dr. Franz Armand (1837─1896) Gutsbesitzer, MdR (nationalliberal)
  • Kulmiz, Dr. Paul von (1836─1895) Rittergutsbesitzer und Industrieller, MdR (Deutsche Reichspartei)
  • Marquardsen, Dr. Heinrich (1826─1897) Staatsrechtslehrer, MdR (nationalliberal)
  • Oechelhäuser, Wilhelm (1820─1902) Industrieller, MdR (nationaliberal)
  • Wendt-Papenhausen, Karl Freiherr von (1832─1903) Rittergutsbesitzer, MdR (Zentrum)
  • 1GStA Dahlem (M) 2.2.1 Nr. 29949, fol. 217─228; Entwurf von der Hand Tonio Bödikers mit geringfügigen Abänderungen Bosses: BArchP 15.01 Nr. 391, fol. 155─161 Rs.; Reinschrift: ebd., fol. 162─177. »
  • 2Vgl. Nr. 185. »
  • 3Die Herkunft der einzelnen Abänderungen ist in Nr. 185 bei den jeweiligen Paragraphen angedeutet. »
  • 4Dieses geschah am 1.7.1884. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 185, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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