II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 180

1884 Mai 28

Bericht1 des badischen Gesandten in Berlin Adolf Frhr. Marschall von Bieberstein an den badischen Ministerpräsidenten Ludwig Turban

Entwurf

[Die Auswirkungen des sog. klerikal-konservativen Kompromisses und Analyse der politischen Rahmenbedingungen seines Zustandekommens]

An die jüngsten Vorgänge in der Unfallversicherungskommission, über welche ich Euer Exzellenz eingehend berichtete, hat sich eine mit ziemlicher Schärfe ge-

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führte Polemik in der Presse geknüpft, welche voraussichtlich im Plenum des Reichstags weiter fortgesetzt werden wird. Die Deutschfreisinnigen ließen es nicht dabei bewenden, am Schluß der II. Lesung der Kommission eine Verwahrung gegen das “ungewöhnliche, den Intentionen des Reichstags widersprechende Verfahren” der Kommissionsmehrheit zu Protokoll zu geben, brachten nämlich diese Verwahrung sofort in ihrer Presse an die Öffentlichkeit und provozierten dadurch eine Entgegnung des Vorsitzenden der Kommission, Frhr. v. Frankenstein, der seinerseits konstatierte, daß “in den Verhandlungen der Unfallkommission nichts vorgekommen war, was mit der Geschäftsordnung oder dem parlamentarischen Herkommen in Widerspruch gestanden hatte.” Soweit meine parlamentarische Erfahrung reicht, vermag ich in den stattgehabten vertraulichen Besprechungen ebenfalls nichts Außergewöhnliches oder Unkorrektes zu erblicken. Die Vorgeschichte des sog. “klerikal-konservativen Kompromisses” war einfach die, daß hervorragende Kommissionsmitglieder des Zentrums und der Konservativen, von den ersteren besonders Baron Franckenstein, Herrn Staatsminister von Boetticher den Wunsch ausdrückten, zwischen der I. und der II. Lesung des Entwurfs eine vertrauliche Beratung über die in II. Lesung zu stellenden Anträge zu pflegen, und daß Herr von Boetticher diesem Wunsche in bereitwilliger Weise nachkam. Vor der Beratung wurde von seiten des Ministers die Entschließung der verbündeten Regierungen und von seiten der Kommissionsmitglieder diejenigen ihrer Fraktionen vorbehalten, es sollte die vertrauliche Besprechung nur den Zweck haben, vorläufig die Linie festzustellen, innerhalb derer eine Einigung der gesetzgebenden Faktoren über den Entwurf voraussichtlich möglich sein werde, zugleich sollten die zu stellenden Anträge und Beschlüsse der Regierungskommission in eine entsprechende redaktionelle Form gebracht werden. Bei einem Gesetzentwurf, der, wie der vorliegende, 106 Paragraphen enthält und eine ganze Reihe streitiger Prinzipienfragen aufwirft, deren Entscheidung wiederum auf den ganzen technischen Aufbau des Entwurfs zurückwirkt, ist es fast unumgänglich nötig, auf diese Weise mit der Regierung Fühlung zu suchen, um zu einem brauchbaren Resultat der Kommissionsberatungen zu gelangen. Ich erinnere mich, daß z. B. bei dem Tabaksteuergesetz im Jahre 18792 in ganz ähnlicher Weise vertrauliche Besprechungen von Delegierten der Kommission mit den Vertretern der Regierung stattgefunden haben, und ich weiß, daß auch bei der Kommissionsberatung über das Krankenkassengesetz im vorigen Jahre derselbe Weg eingeschlagen worden ist. Am allerwenigsten haben die Deutsch-Freisinnigen als prinzipielle Gegner des Entwurfs Anlaß, sich über die stattgehabte vertrauliche Besprechung zu beschweren; sie waren auch nach Einbringung der Kompromißanträge durch nichts verhindert, ihre entgegengesetzten Anschauungen darzulegen und in Anträge zu formulieren. Kein einziger Schlußantrag ist in II. Lesung gestellt worden; wenn das Auftreten einer geschlossenen Majorität die Aussichten der Freisinnigen auf ein negatives Resultat der Kommissionsverhandlungen zerstörte, so haben sie doch absolut kein Recht dazu, der Majorität vorzuwerfen, daß sie sich außerhalb der Kommission zusammengefunden habe. Soweit von den Nationalliberalen, die sich in Heidelberg und auf dem hiesigen Parteitag zur Mitwirkung an dem Zustandekommen des Gesetzes [ Druckseite 622 ] bereit erklärt hatten, der Ausschluß von den vertraulichen Besprechungen empfindlich sein konnte, hat Herr v. Boetticher das versöhnende Wort gesprochen, indem er in der Kommission auf eine Bemerkung des Abgeordneten Dr. Buhl erklärte, ein Einverständnis der Regierung zu den Anträgen Hertling & Genossen bestehe nicht, vielmehr würden die verbündeten Regierungen wie bisher erst nach der II. Lesung im Plenum ihre Stellungnahme zu den Änderungen des Entwurfs in Betracht ziehen ─ in gleicher Weise, wie dies gegenüber dem Zentrum und den Konservativen geschehen sei, werde er dem Wunsch jeder anderen Partei auf Herbeiführung einer vertraulichen Besprechung unter Mitwirkung der Regierungskommissäre bereitwillig entgegenkommen. Daß die Nationalliberalen bei der wichtigen Bestimmung über die Erhöhung des Reservefonds von diesem Anerbieten Gebrauch machten und den von dem Abg. Buhl gestellten Antrag zu § 18 zur Annahme brachten, habe ich bereits berichtet.3

Wenn hiernach der erwähnte Vorgang, äußerlich betrachtet, die Bedeutung nicht besitzt, welche ihm die freisinnige Presse vindiziert, so hat er doch einen politischen Hintergrund, der wohl der Beachtung wert ist. Er stellt nur die Tatsache vor Augen, daß das Zentrum keineswegs gewillt ist, seine bisherige ausschlaggebende Teilnahme an der wirtschaftlichen und sozialpolitischen Gesetzgebung aufzugeben, sondern im Gegenteil in der neuesten politischen Konstellation, wie sie das Heidelberger Programm und der Berliner Parteitag geschaffen hat, einen Sporn findet, den Nationalliberalen wo immer tunlich den Rang abzulaufen. Es ist ein wirklich eigentümliches Schauspiel zu sehen, wie in demselben Augenblick, wo die offiziöse Presse unablässig auf das Zentrum losschlägt und sich für dessen Todfeinde, die Nationalliberalen, begeistert, das Zentrum mit einem förmlichen Empressement sich an die Regierung herandrängt, um seine Unentbehrlichkeit auf wirtschaftlichem und sozialpolitischem Gebiet zu dokumentieren und sich als die billigeren Konkurrenten gegenüber dem Nationalliberalismus anzubieten. Herr Windthorst versichert dem Reichskanzler persönlich seine Unterstützung bei dem großen sozialpolitischen Plan. Herr v. Franckenstein setzt alle Hebel in Bewegung, um in der Kommission ein dem Kanzler genehmes Gesetz zustande zu bringen, er machte stets gerade an dem Punkt Konzessionen, wo die Nationalliberalen für die Regierungswünsche nicht zu haben sind. Diese Taktik sollte meines Erachtens von nationalliberaler Seite ernster ins Auge gefaßt werden, als es zur Zeit geschieht. Der Reichskanzler ist allerdings heute mehr wie je davon überzeugt, daß es zur Gesundung unserer politischen Verhältnisse einer starken gemäßigten Mittelpartei bedarf, und er wird gewiß alles tun, um eine solche wiederherzustellen ─ allein er [ist] nicht Idealist genug, um nicht schließlich die Unterstützung für seine Pläne da zu nehmen, wo sie zu haben ist. [...]

Die Zugkraft des Heidelberger Programms und des hiesigen Parteitags besteht in der Zusage einer tatkräftigen Unterstützung des Reichskanzlers; alle Redner des 18. Mai4 haben an der Stelle, wo sie in diesem Sinn sprachen, den lebhaftesten Beifall geerntet. Die Zukunft der gemäßigten liberalen Partei ruht auf der Verwirklichung dieser Zusage, von ihr wird die Haltung der Wähler und nicht mindest die Stellung [ Druckseite 623 ] des Reichskanzlers zur Partei abhängig sein. Gerade bei der bevorstehenden Beratung des Unfallversicherungsgesetzes wird sich Gelegenheit bieten, früher gemachte Fehler zu vermeiden. Nachdem die Partei ihre speziellen Wünsche bezüglich der Konkurrenz der Priv[at]Vers[icherungs])Gesellsch[aften] in der Kommission nicht durchzusetzen vermochte, sollte sie auf diese für die Regierung durchaus unannehmbaren Vorlagen im Plenum nicht mehr zurückkommen, um nicht das Schauspiel zu bieten, schließlich nach Verwerfung ihrer Anträge in 2. Lesung im Schlepptau der Konservativen und des Zentrums ein widerwilliges “Ja” sagen zu müssen.

Registerinformationen

Personen

  • Behrend, Moritz (1836─1915) Papiermühlenpächter Bismarcks
  • Bödiker, Tonio (1843─1907) Geh. Regierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Boetticher, Karl Heinrich von (1833─1907) Staatssekretär des Innern
  • Bosse, Robert (1832─1901) Direktor der II. Abteilung für wirtschaftliche Angelegenheiten im Reichsamt des Innern
  • Buhl, Dr. Franz Armand (1837─1896) Gutsbesitzer, MdR (nationalliberal)
  • Gamp, Karl (1846─1918) Geh. Regierungsrat im preuß. Handelsministerium bzw. Reichsamt des Innern
  • Hertling, Prof. Dr. Georg Freiherr von (1843─1919) Philosoph, MdR (Zentrum)
  • Marschall von Bieberstein, Adolf Hermann Freiherr (1842─1912) Jurist, badischer Gesandter in Berlin
  • Richter, Karl (1829─1893) Hüttendirektor, MdR (Deutsche Reichspartei)
  • Rottenburg, Dr. Franz von (1845─1907) Geheimer Regierungsrat, Chef der Reichskanzlei
  • Russel, Emil (1835─1907) Bankier, Vorstandsmitglied des Zentralverbands deutscher Industrieller
  • Windthorst, Dr. Ludwig (1812─1891) Jurist und Politiker, MdR (Bundesstaatl.konst. Vereinigung/Zentrum
  • 1GLA Karlsruhe 49 Nr. 2013, n.fol. Die Ausfertigung dieses politischen Berichts ist nicht überliefert. »
  • 2Vgl. zur dabei gefundenen Franckensteinschen Klausel die Einleitung. »
  • 3Vgl. Nr. 179 und den Bericht Marschalls vom 25.5.1884 (GLA Karlsruhe 49 Nr. 2013). »
  • 4Vgl. Nr. 151 Anm. 2 und Nr. 177 Anm. 4. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 180, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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