II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 171

1884 Mai 16

Bericht1 über die 19. Sitzung der VII. Kommission des Reichstags

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[Diskussion über Unfallverhütung, Überwachung der Betriebe durch die Genossenschaft und Reichsversicherungsamt]

Am 16. stand der Abschnitt von der Unfallverhütung bzw. der Überwachung der Betriebe durch die Genossenschaften zur Beratung. Da die in den betreffenden Paragraphen der Vorlage vorgesehene Teilnahme der Arbeiterausschüsse in Konsequenz der früher beschlossenen Beseitigung der letzteren eliminiert werden mußte, so kam es zu einer Art Wiederholung der allgemeinen Debatte über die Vertretung der Arbeiter. Von den Vertretern der Regierung sowohl wie der freisinnigen Partei und vom Abg. Lohren wurde die Ablehnung des Arbeiterausschusses als ein

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schwerer Fehler bezeichnet. Dies rief von seiten des Zentrums die mit größter Entschiedenheit abgegebene Erklärung hervor, daß das Gesetz entweder ohne die Arbeiterausschüsse oder gar nicht zustande kommen werde.2 von freisinniger Seite glaubte man dem als feststehend entgegenstellen zu können, daß die Arbeiterausschüsse in der zweiten Lesung angenommen werden würden. In § 78, welcher den Genossenschaften die Befugnis zum Erlaß von Unfallverhütungsvorschriften erteilt, wurde auf Antrag Buhl hinzugefügt: “Vor Erlaß der Vorschriften sind die Genossenschaftsvorstände, oder wenn diese Vorschriften nur für eine oder mehrere Sektionen Gültigkeit haben sollen, die betreffenden Sektionsvorstände gutachtlich zu hören.” Durch diese Bestimmung soll, da nach dem früher gefaßten Beschlusse die Arbeiter in den Vorständen ja vertreten sein müssen, ein Ersatz für die gutachtliche Vernehmung der Arbeiterausschüsse geschaffen werden. Die Bestimmungen des § 79, welche sich auf die Beteiligung der Arbeiterausschüsse beziehen, wurden gestrichen. Ebenso mußte § 81 geändert werden, nach welchem die von den Landesbehörden zur Verhütung von Unfällen zu erlassenden Anordnungen den Arbeiterausschüssen zur Begutachtung vorgelegt werden sollen. Auch hier traten die Genossenschafts- bzw. Sektionsvorstände an die Stelle. Große Besorgnis hat in industriellen Kreisen die Bestimmung der Regierungsvorlage erregt, daß die Genossenschaften durch Beauftragte eine sehr eingehende Überwachung der zu ihnen gehörigen Betriebe vornehmen können. Man befürchtet ein Eindringen der Konkurrenten in die Betriebsgeheimnisse und dgl. § 83 gibt nun allerdings dem Betriebsunternehmer das Recht, statt dessen Beauftragten der Genossenschaft die Besichtigung seines Betriebes durch andere Vertreter derselben zu beanspruchen. Auch hierin glaubte indes die Industrie eine genügende Garantie nicht erblicken zu können. Ein Antrag, die Fabrikinspektoren mit der Aufgabe zu betrauen, wurde, nachdem namentlich seitens der Regierungsvertreter staatsrechtliche Bedenken geltend gemacht waren, zurückgezogen und statt “andere Vertreter der Genossenschaft” “andere Sachverständige” gesetzt. Die Entscheidung über § 84, welcher den Beauftragten usw. Verschwiegenheit auferlegt, wurde ausgesetzt, da eine vom Abg. Eysoldt angeregte Ergänzung von den Regierungsvertretern als wünschenswert anerkannt wurde, die Fassung aber noch nicht festzustellen war.

Zu Abschnitt VII. “Reichsversicherungsamt” wurde von Deutsch-Freisinniger Seite Abänderung des Namens dieser Behörde in “Reichsamt für das Unfallwesen” beantragt, da nach der Gestaltung der Vorlage überhaupt eine eigentliche Unfallversicherung im technischen Sinne gar nicht in Frage stehe. Der Antrag wurde abgelehnt. Auf Anfrage von Deutsch-Freisinniger Seite wird von den Regierungsvertretern konstatiert, daß das Reichsversicherungsamt, soweit es richterliche Funktionen habe, unabhängig, soweit es Verwaltungsaufgaben habe, dem Reichskanzler unterstehend sei. Die Abgg. Schrader und Eberty wiesen auf die großen Bedenken hin, die einer derartigen Vermengung von Verwaltung und Justiz entgegenstehen und kündigten für die zweite Lesung Anträge auf Trennung der administrativen und richterlichen Funktionen des Amtes an. Als § 91 a beantragte Abg. v. Hertling einzuschalten:

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“In den einzelnen Bundesstaaten können für das Gebiet derselben Landesversicherungsämter von den Landesregierungen errichtet werden. Der Beaufsichtigung des Landesversicherungsamtes unterstehen diejenigen Berufsgenossenschaften, welche sich nicht über das Gebiet des betreffenden Bundesstaates hinaus erstrecken. In den Angelegenheiten dieser Berufsgenossenschaften gehen die in den §§ 16, 20, 27, 28 (?), 30, 32, 37, 39, 40, 62, 63, 73, 75, 77 (?), 78, 80, 83, 85, 86, 88, 89, 103 dem Reichsversicherungsamt übertragenen Zuständigkeiten auf das Landesversicherungsamt über. Soweit jedoch in den Fällen der §§ 30, 32 und 37 eine der Aufsicht des Reichsversicherungsamts unterstellte Berufsgenossenschaft mitbeteiligt ist, entscheidet das Reichsversicherungsamt.”

Der Antragsteller rechtfertigte den Antrag unter Hinweis auf das politische Bedürfnis der Wahrung der Selbständigkeit der Einzelstaaten, soweit diese groß genug seien, um die erforderte Einrichtung für sich allein tragen zu können. Abg. v. Maltzahn-Gültz erklärte sich gegen den Antrag, behielt sich aber vor, aus politischen Gründen, weil der Antrag von einer ausschlaggebenden Partei ausgehe, in zweiter Lesung eventuell dafür zu stimmen. Von Deutsch-Freisinniger Seite [Schrader und Buhl] wurde der Antrag entschieden bekämpft unter Betonung des Umstandes, daß es geringes Interesse an der Förderung der sozialpolitischen Aufgaben verrate, wenn die Zentrumspartei von derartigen partikularistischen Wünschen ihre Zustimmung zu dem Gesetze abhängig mache. Staatssekretär v. Boetticher empfahl die [Regierungs]Vorlage, welche im Bundesrate mit Recht ohne Rücksicht auf Politik gestaltet worden sei. Es handle sich hier um ein ganzes unpolitisches Reichsorgan, welches lediglich wirtschaftliche Aufgaben habe und lediglich aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten konstruiert sei. Übrigens werde der Bundesrat voraussichtlich an der Annahme des Hertlingschen Antrags die Vorlage nicht scheitern lassen, hoffend, daß demnächst die Macht der tatsächlichen Bedürfnisse sich als stärker erweisen werde, als die Wünsche, von welchen der Antrag diktiert sei. Bei der Abstimmung wurde der Antrag mit allen gegen die Stimmen des Zentrums und des Abg. Frege3 abgelehnt.4

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Registerinformationen

Personen

  • Boetticher, Karl Heinrich von (1833─1907) Staatssekretär des Innern
  • Buhl, Dr. Franz Armand (1837─1896) Gutsbesitzer, MdR (nationalliberal)
  • Eberty, Eduard Gustav (1840─1894) Stadtsyndikus in Berlin, MdR (Liberale Vereinigung)
  • Eysoldt, Arthur (1832─1907) Rechtsanwalt, MdR (Fortschritt)
  • Feilitzsch, Max Freiherr von (1834─1913) bayer. Innenminister
  • Franckenstein, Georg Arbogast Freiherr von und zu (1825─1890) Jurist und Gutsbesitzer, MdR (Zentrum), Vizepräsident des Reichstags
  • Frege-Weltzien, Dr. Arnold von (1848─1916) Kammerherr, MdR (konservativ)
  • Goßler, Gustav von (1838─1902) preuß. Kultusminister, MdR (konservativ)
  • Gutfleisch, Dr. Egidi (1844─1914) Rechtsanwalt, MdR (Liberale Vereinigung)
  • Herrmann, Joseph (1836─1914) Ministerialrat im bayer. Innenministerium, stellvertretender Bundesratsbevollmächtigter
  • Hertling, Prof. Dr. Georg Freiherr von (1843─1919) Philosoph, MdR (Zentrum)
  • Kulmiz, Dr. Paul von (1836─1895) Rittergutsbesitzer und Industrieller, MdR (Deutsche Reichspartei)
  • Müller, Dr. Hermann (1826─1903) Rittergutsbesitzer, MdR (nationalliberal)
  • Schrader, Karl (1834─1913) Eisenbahndirektor, MdR (Liberale Vereinigung)
  • Windthorst, Dr. Ludwig (1812─1891) Jurist und Politiker, MdR (Bundesstaatl.konst. Vereinigung/Zentrum
  • 1ZfV, 8. Jg. 1884, S. 278, Sitzungsprotokoll: BArchP 01.01 Nr. 3081, fol. 271─277, Anträge: fol. 278─285. »
  • 2Vgl. dazu Nr. 164 und die am 10.5.1884 geäußerten Bedenken Ludwig Windthorsts (Nr. 167). »
  • 3Dr. Arnold Frege-Weltzien (1848─1916), Kammerherr, seit 1878 MdR (konservativ). »
  • 4Am 17.5.1884 berichtete der bayerische Bevollmächtigte zum Bundesrat Joseph Herrmann an den bayerischen Minister des Innern Max Freiherr von Feilitzsch über den Verlauf der Debatte zu § 91 a und die besonderen Intentionen v. Franckensteins dazu: Nach Schluß derselben (der Debatte) sagte mir privatim Herr von Franckenstein, er gehe jede Wette ein, daß ohne Zulassung von Landesversicherungsämtern das Gesetz nicht zustande kommen werde. Er scheint der eigentliche Träger dieser Idee zu sein, denn Hertling sagte mir, daß er keinen so großen Wert auf seinen Antrag lege, da er keine erhebliche praktische Bedeutung habe. (BayHStA MA 77380, n.fol.) In der Debatte äußerte v. Hertling lt. Sitzungsprotokoll noch, er verwahre das Zentrum dagegen, daß ihm der Antrag bedeutungslos erscheine. Frhr. v. Franckenstein dürfte damit seine “partikularistischen” bzw. pro domo der Selbständigkeit Bayerns vorgetragenen Bedenken gegen die Reichsversicherungsanstalt der ersten Unfallversicherungsvorlage (vgl. dazu Bd. 2 der I. Abt., S. 608) auf das Reichsversicherungsamt übertragen haben; vgl. zum Verhalten Hertlings auch Nr. 149 Anm. 3, zum weiteren Vorgehen v. Franckensteins Nr. 175. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 171, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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