II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 113

1883 Oktober 4

Tagebucheintragung1 des Direktors im Reichsamt des Innern Robert Bosse

Niederschrift, Teildruck

[Reflexionen über den Bruch zwischen Bismarck und Lohmann und die Folgen]

Ich fühle mich den Anforderungen des Amts auch nicht gewachsen. Ich habe nach dem traurigen parlamentarischen Verlaufe des Lohmannschen Unfallversicherungsentwurfes recht wenig innerliche Zuversicht und Freudigkeit auf das Gelingen von Bismarckschen sozialpolitischen Gedanken. Nun möchte ich nicht fahnenflüchtig werden, auch Boetticher nicht verlassen. [...] Hier in unserem Reichsamt stehen die Sachen nun freilich auch recht übel.

Lohmann ist am vorigen Freitag, als Bismarck auf der Rückreise von Gastein nach Friedrichsruh hier war, zu diesem gerufen und hat sich mit ihm über die Unfallversicherung [ Druckseite 377 ] ausgesprochen. Lohmann hat ihm erklärt, er sehe keinen Weg, wie die Sache auf berufsgenossenschaftlicher Grundlage unter Festhaltung des Umlageverfahrens zu machen sei. Bismarck hat danach auf Lohmanns weitere Mitwirkung verzichtet. Er hat später, ganz erschüttert, wie mir Boetticher sagte, geklagt: In Lohmann sei ihm wieder ein Ideal zerstört, eine Kraft davongegangen, auf die er mit Sicherheit gerechnet habe.2 Auch Lohmann war von der Unterredung ergriffen, er hat sich aber ─ und den Mut dazu muß ich doch voll anerkennen ─ von seinen Gewissensbedenken ehrlich losgeredet. Wenn die Aufgabe nach seiner Überzeugung nun einmal im Sinne des Fürsten nicht zu lösen ist, so hat er sich doch wie ein Mann und Christ benommen.3

Diese Überzeugung, daß alle Gedanken des Fürsten über die Sache “reines dummes Zeug” seien, teile ich nicht. Die Berufsgenossenschaften sind an sich wohl möglich und können sehr wohl die Grundlage für eine spätere, politische Reform, für eine organische Vertretung aller realen Volkskräfte werden. Lohmann verwirft dabei den Zwang. Er hält eine erfolgreiche Bekämpfung des Individualismus, die auch er will, nur durch die freie Assoziation für möglich, und die freie Assoziation will er anbahnen durch staatliche materielle Anforderungen, die nur assoziationsweise zu erfüllen sind. Allein im Grunde ist das auch ein Zwang, wenn auch ein indirekter.4

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Boetticher ist gestern abend von Friedrichsruh zurückgekommen.5 Der Fürst hat zunächst unsere Unfallstatistik stark bemängelt. Nicht ohne Grund. Dann haben [sie] den direkten Reichszuschuß aufgegeben, aber nicht das Umlageverfahren. Die Beihilfe des Reichs soll nur darin bestehen, daß es die Entschädigungen für ein Jahre vorschießt.6 Ferner hat ihn Boetticher vor die Entscheidung gestellt: Gefahrengenossenschaften oder Berufsgenossenschaften? Der Kanzler will nunmehr reine Berufsgenossenschaften, etwa 15 Gruppen nach einer flüchtigen Skizze Magdeburgs. 7 Jede Berufsgenossenschaft soll ihren Tarif machen und die einzelnen Betriebe dahinein einschätzen. Vorläufig soll der Zwang nur für die jetzt im Haftpflichtgesetz benannten Betriebe gelten: Bergwerke, Steinbrüche, Gräbereien, Fabriken. In einem 2. Gesetze soll dann die Möglichkeit zur Ausdehnung auf andere Betriebe gegeben werden. Dadurch sind manche bisher dunkle Punkte klarer geworden. Aber verzweifelt schwierig bleibt die Sache immer. Nun soll Geheimrat

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Gamp8 aus dem Handelsministerium, ferner Magdeburg und Bödiker, jeder selbständig, einen Entwurf ausarbeiten.9 Die sollen dann dem Kanzler vorgelegt werden. Keiner von den dreien ist eine Kraft ersten Ranges, die an Lohmann auch nur entfernt heranreicht. Magdeburg fühlt das auch und sprach es mir gegenüber aus. Er ist sehr betrübt über seine Aufgabe, der er sich nicht gewachsen fühlt.10 Am Ende wird Lohmann doch vielleicht hinter den Kulissen das beste tun müssen. Ich will auch versuchen, einen Entwurf zu formulieren.11

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Registerinformationen

Personen

  • Bödiker, Tonio (1843─1907) Geh. Regierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Gamp, Karl (1846─1918) Geh. Regierungsrat im preuß. Handelsministerium bzw. Reichsamt des Innern
  • Magdeburg, Eduard (1844─1932) Geh. Regierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Rottenburg, Dr. Franz von (1845─1907) Geheimer Regierungsrat, Chef der Reichskanzlei
  • Windthorst, Dr. Ludwig (1812─1891) Jurist und Politiker, MdR (Bundesstaatl.konst. Vereinigung/Zentrum
  • Wyneken, Dr. Ernst Friedrich (1840─1905) Philosoph und Theologe, Freund Theodor Lohmanns
  • 1GStA Dahlem Rep. 92 NL Bosse Nr. 7, fol. 34─36. »
  • 2Ein erstes Mißtrauen Bismarcks gegenüber Lohmann zeigte sich allerdings bereits im Mai 1883 im Hinblick auf dessen Äußerungen bzw. Verhalten als Regierungskommissar bei den Ausschußsitzungen des Reichstags, vgl. Nr. 87 und Nr. 100; Lohmann seinerseits hatte schon im Dezember 1881 einen “Bruch” einkalkuliert. (vgl. Nr. 26). »
  • 3Vgl. Nr. 114. In seinen Erinnerungen “Zehn Jahre im Reichsamt des Innern” vermerkte Robert Bosse dazu, daß diese Unterredung nach Lohmanns Mitteilung auf beiden Seiten mit tiefem Ernst und mit dem Bewußtsein, daß es sich um große, entscheidende Fragen handelte, geführt wurde. Und er kommentiert: Daß dies geschehen konnte und daß der Fürst eine solche Aussprache herbeigeführt hat, ist ein Beweis seiner feinen psychologischen Beobachtung und seines tief sittlichen Empfindens; er witterte förmlich instinktiv die Bedeutung der Menschen, die in seinen Bannkreis eintreten, und er handelte in diesen Dingen nicht mit der gewöhnlichen geschäftsmäßigen Gleichgültigkeit, sondern mit voller Würdigung der Dinge und Personen und auch mit dem Herzen. Zu Lohmanns Verhalten fügte er hinzu: Wenn er einmal der Überzeugung war, daß die Aufgabe im Sinne des Fürsten nicht zu lösen sei, so mußte er das, nachdem ihm der Fürst einmal den Mund geöffnet hatte, auch sagen. Und das hat er wie ein Christ und Mann getan. Leute, die ihm nicht das Wasser reichten, sagten hinterher, das sei ja doch selbstverständlich. Aber man mußte die gewaltige Persönlichkeit des Fürsten, die Art, wie die Menschen vor ihm im Staube krochen und die nur allzu verbreitete Furcht vor ihm kennen, um unter den besonderen Verhältnissen die Offenheit, mit der Lohmann damals dem Fürsten entgegengetreten ist, recht zu würdigen. Lohmann hat dabei sein Amt und seine Zukunft aufs Spiel gesetzt. Alle Achtung vor ihm. Eine ganz andere Frage war die, ob er sachlich recht hatte. Ich glaubte das nicht. (GStA Dahlem Nachlaß Bosse Nr. 16, fol. 21 ff.) »
  • 4In seinen Erinnerungen (ebd.) bemerkte Bosse ergänzend: Lohmann, auf dem bei den bisherigen Unfallversicherungsarbeiten Mühe und Last fast ausschließlich gelegen hatten, hatte sich allmählich in seinen Plan, seine Auffassungen und die von ihm ausgesonnenen Wege immer tiefer hineingebohrt. Das war menschlich. Es ließ sich auch begreifen, daß der Widerstand, auf den er sowohl im Reichstage wie bei seinen Vorgesetzten stieß, ihn nervös machte und reizte. Aber damit war doch noch nicht gesagt, daß er allein recht hatte. Er verhielt sich vielmehr den von anderer Seite aufgestellten Möglichkeiten einer anderen Lösung gegenüber grundsätzlich ablehnend. Die Berufsgenossenschaften waren sehr wohl möglich. Ja, der Gedanke einer berufsgenossenschaftlichen Gliederung aller Gewerbe und Stände, mit dem Fürst Bismarck sich damals trug ─ und zwar ohne Zweifel mit dem endlichen Ausblick auf eine künftig vielleicht mögliche Verwertung dieser Organisation zu politischen Zwecken, insbesondere zu einer Reform des Wahlrechts ─, dieser Gedanke hatte etwas Bestrickendes. Es lag darin ein geniale Idee, die man nicht mit ein paar kurzen abwertenden Redensarten beiseite schieben durfte. Gewiß hatte dieser letzte politische Ausblick auf die künftige Schaffung einer organischen Vertretung aller realen Volkskräfte zunächst nichts mit der Unfallversicherung zu tun, aber der Fürst ließ ja diesen letzten Hintergedanken auch nur aus der äußersten Ferne durchblicken; er verbarg und verschleierte ihn sogar in der richtigen Erkenntnis seiner Tragweite und der Schwierigkeit seiner Durchführung; er verlangte zunächst nichts weiter als eine genossenschaftliche Grundlage, die geeignet wäre, die Unfallversicherung zu tragen. Und diese genossenschaftliche Grundlage war ohne allen Zweifel möglich. Sie bot gewisse Unbequemlichkeiten und selbst Unerträglichkeiten gegenüber der bereits gesetzlich festgelegten Krankenversicherung, die ja schon wegen der Karenzzeit und auch sonst mit der Unfallversicherung zusammenhing. So verständlich es war, daß dem Geheimen Rat Lohmann die Komplizierung, die sich für diese Verhältnisse aus der genossenschaftlichen Organisation der Unfallversicherung ergab, höchlich unerwünscht erschien, so ergab sich daraus noch keineswegs die Nötigung, die genossenschaftliche Organisation ganz fallen zu lassen. (...) Genug, ich teilte auch nach der eingehenden Prüfung die Auffassung nicht, daß die Lösung der Unfallversicherungsfrage in Sinne des Fürsten Bismarck unausführbar sei. Mit Ausnahme des Geheimen Rats Lohmann vertrat die ganze Abteilung vielmehr die mehr optimistische Ansicht des Staatssekretärs von Boetticher, daß, wo ein Wille sei, auch ein Weg sein müsse. Zunächst hatten wir freilich über einige Punkte noch erhebliche Zweifel. ─ Die Auslassungen betreffen hier nur die Passagen, die Bosse aus seinem Tagebuch mehr oder weniger wörtlich in seinen Erinnerungen aufgenommen hat. »
  • 5v. Boetticher war vom 2.-3.10.1883 in Friedrichsruh (BArchP 15.01 Nr. 14265, fol. 160). »
  • 6Vgl. Nr. 111. »
  • 7Vgl. Nr. 97, auch aus der Direktive vom 27.9.1883 ergibt sich, daß Bismarck zu diesem Zeitpunkt Gefahrengenossenschaften nicht mehr erwog, von daher ist es unwahrscheinlich, daß Boetticher zu diesem Zeitpunkt Bismarck noch vor “die Entscheidung gestellt” haben soll; eine gewisse informative Abschottung des Lohmannkonfidenten Bosse durch seinen Vorgesetzten und Duzfreund v. Boetticher ist denkbar. »
  • 8Karl Gamp (1846─1918), seit 1881 auf Veranlassung Bismarcks im preußischen Handelsministerium tätig, zunächst als Hilfsarbeiter, dann (seit 1883) als Geheimer Regierungsrat, vgl. dazu auch Nr. 112 Anm. 3 und Nr. 114 Anm. 10. »
  • 9In seinen Erinnerungen “Zehn Jahre im Reichsamt des Innern” hat Robert Bosse dazu vermerkt: Der Staatssekretär ordnete an, daß sowohl Gamp wie die Geheimen Regierungsräte Bödiker u. Magdeburg jeder selbständig den Entwurf eines Unfallversicherungsgesetzes ausarbeiten sollten. Diese Anordnung war ungewöhnlich, und man konnte zweifeln, ob sie nützlich und zweckentsprechend war. Denn wenn von zwei tüchtigen Männern je ein besonderer Entwurf ausgearbeitet wurde, so war es zwar möglich, daß jeder von ihnen Ideen zutage förderte, die brauchbar erschienen und sich vielleicht kombinieren ließen. Aber einer der Entwürfe mußte doch schließlich zugrunde gelegt werden. Mithin mußte man sich von vornherein sagen, daß zwei von den Referenten vergeblich oder doch ohne den Erfolg, den jeder von ihnen erstrebte, arbeiteten. Es war eine unerhörte Kraftanspannung, ein Wettbewerb, der begreiflicherweise auch auf das persönliche Verhältnis der Mitglieder der Abteilung zueinander zurückwirkte. Das bis dahin ungetrübte und harmonische Zusammenwirken der Abteilung litt denn auch darunter, und ich empfand dies schmerzlich. Aber vorwärts kamen wir. Geheimrat Magdeburg schied aus der Arbeit bald wieder aus, so daß die Herren Bödiker und Gamp sich darin teilten. (ebd., fol. 23 f.) »
  • 10Vgl. Nr. 123, der Entwurf Magdeburgs wurde zwar metallographiert, aber intern nicht weiter bearbeitet und wohl auch nicht an Bismarck weitergeleitet (vgl. BArchP 15.01 Nr. 385, fol. 18─32 Rs., mit Randbemerkungen v. Boettichers und 90 Lo 2 Nr. 17, fol. 60─74 Rs. mit Randbemerkungen Lohmanns). Dabei handelt es sich um eine erweiterte und veränderte Fassung von Nr. 97, die aber genaue Vorschläge für die Bildung von Berufsgenossenschaften nicht mehr enthält. Im übrigen war Eduard Magdeburg zu diesem Zeitpunkt in erster Linie mit der Aktiengesetznovelle befaßt (vgl. Nr. 124 Anm. 4). Bödiker kam erst nach dem 7.10.1883 nach Berlin zurück (vgl. Nr. 110), war also erst danach für Bismarck erreichbar, der ─ wie Bödiker nach einer Mitteilung v. Rottenburgs am 10.10.1883 notierte ─ bereits am 28.9. nach ihm gesandt haben soll, um mit ihm wegen der Unfallversicherungsvorlage zu sprechen, dabei teilte er ihm mit, daß Bismarck mit Lohmann auseinandergeraten sei (Familienchronik Bödiker im Besitz von Dietrich v. Moers, Berlin, der mit der Abfassung einer Bödiker-Biographie von der Familie Bödiker-Paasche beauftragt ist). Bödiker war bis dahin bei Bismarck in doppelter Hinsicht aufgefallen: Einmal durch seine dilettantische Unfallversicherungsstatistik, die immerhin zur Kritik an Bismarcks Vorstellungen einer Organisation der Unfallversicherung auf der Grundlage von Gefahrenklassen geführt hatte, und zum anderen durch seine demonstrativen Loyalitätsbezeugungen anläßlich der Vertretung der Gewerbeordnungsnovelle vom 1.7.1883 im Reichstag (vgl. Nr. 110 Anm. 1), für die ihm Bismarck den Roten Adlerorden 3. Klasse verliehen hatte. Ob Bismarck auch Bödiker einen gesonderten Auftrag für eine Denkschrift für ein Unfallversicherungsgesetz erteilen (gleichsam an v. Boetticher vorbei) oder nur dessen Statistik kritisieren wollte, läßt sich nicht mehr feststellen. »
  • 11Ein solcher entstand nicht, die umfangreichste Ausarbeitung Bosses, die aktenmäßig belegbar ist, sind die Ziffern 9, 10, 12 u. 13 der “Grundzüge” vom 29.12.1883 (Nr. 133), die möglicherweise unter Mithilfe Lohmanns “hinter den Kulissen” zustande kamen. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 113, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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