II. Abteilung, 2. Band, 1. Teil

Nr. 89

1883 Juni [5]

Bericht1 des Regierungsrates Wilhelm Graf von Bismarck2 für den Reichskanzler Otto Fürst von Bismarck

Eigenhändige Ausfertigung mit Randbemerkungen Bismarcks

[Die Verhandlungsergebnisse der VIII. Reichstagskommission werden in Kernpassagen der zweiten Unfallversicherungsvorlage gegenübergestellt, Kritik am Verhalten der Regierungskommissare Bosse und Lohmann in der Auseinandersetzung mit liberalen Forderungen]

[Regest der Regierungsvorlage] [Regest der Kommissionsbeschlüsse]
Nach der Vorlage sollten alle in Bergwerken, Salinen usw. beschäftigten Arbeiter dem Versicherungszwange unterliegen.3 1. Die Kommission hat den Zwang auf die land- und forstwissenschaftlichen sowie Flößerei-Arbeiter ausgedehnt, unter Widerspruch der Regierung (9., 10. Sitzung [27. u. 29.5.])
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Nach der Vorlage sollten die ersten 13 Wochen lediglich von der Krankenkasse getragen werden. 2. Die Kommission hat anur die ersten vier Wochena der Krankenkasse ausschließlich überwiesen.4 In den weiteren neun Wochen soll das Unfallgesetz Platz greifen, indessen wird für diese Zeit dem Verletzten das Krankengeld, auf welches er nach dem Krankengesetz Anspruch hat, angerechnet. Die dem Krankenversicherungszwange nicht unterliegenden Personen erhalten den Schadensersatz vom Eintritt des Unfalls an.Die Regierung hat beigestimmt, d. h. den Vorschlag als Verständigungsbasis anerkannt (4. Sitzung).5
3. Der Reichszuschuß ist ohne wesentliche Diskussion einstimmig abgelehnt.6
4. Die Vorlage perhorresziert einen Beitrag der Arbeiter 4. die Kommission desgleichen
5. Die Vorlage perhorresziert die Versicherung bei Aktiengesellschaften als Erfüllung der aus dem Gesetze folgenden Pflichten 5. die Kommission desgleichen, doch bleiben Übergangsbestimmungen vorbehalten.
6. die Vorlage will die Gefahrenklassen als Grundlage der Verbandsorganisation 6. Die Kommission will sie nur als a mitbestimmend a für den “Verteilungs”-fuß der Lasten u. vielmehr
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9. aIn räumlich begrenzten Gebietena sämtliche versicherungspflichtigen Betriebe zu einem Betriebsverbande vereinigen.Die Regierung hat widersprochen (7., 8. Sitzung)
7. Die Vorlage will die aus diesem Gesetze entspringenden Lasten durch Verbindungen der versicherungspflichtigen Betriebe aufbringen u. 7. die Kommission desgleichen(NB. Die Mitwirkung der Postverwaltung [§ 97] ist von der Kommission mit großer Majorität beseitigt.)
8. das Risiko zwischen weiterem und engerem Verbande teilen (§7) 8. u. 10. die Kommission desgleichen
12. Die Vorlage will die Lasten durch Umlage des Jahresbedarfs aufbringen 12a. die Kommission will das auch mit einer Maßgabe. Sie hat nämlich aentgegen der Vorlagea:11. unter festzustellenden Normativbedingungen für zulässig erklärt,freiwillige Bildung von Genossenschaften zur selbständigen Übernahme des gesamten oder eines Teilrisikos sowie das freiwillige Ausscheiden einzelner Betriebe. In den Fällen ad 11 soll dann12b. die Aufbringung der Lasten durch Aufbringung der aEntschädigungskapitaliena 7 erfolgen.Diese Bestimmungen verdanken ihre Entstehung einem Entgegenkommen den liberalen Parteien gegenüber, welche in erster Linie das ganze Gesetz auf die Aktiengesellschaften basieren8 und später doch wenigstens die Gesellschaften auf aGegenseitigkeita 9 aufrechterhalten wollten. Die Konservativen haben diese letztere Absicht unterstützt (cf. Antrag Nr. 17 und den zurückgezogenen Nr. 13).10 Die Regierung hätte in dieser Sache etwas schroffer sein können. Das allseitige Bestreben “der Regierung keinen wei-
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ßen Zettel zurückzugeben” scheint etwas auf sie influiert zu haben:cf. Bosse (8. Sitzung), “daß die Zulassung der Gegenseitigkeitsgesellschaften a nur unter der Bedingung a möglich erscheine, daß sie sich in den Rahmen der öffentlich rechtlichen Organisationen einfügen ließen”11 cf. Bosse in 12. Sitzung.12 Lohmann in 11. Sitzung.13

Registerinformationen

Personen

  • Bödiker, Tonio (1843─1907) Geh. Regierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Bosse, Robert (1832─1901) Direktor der II. Abteilung für wirtschaftliche Angelegenheiten im Reichsamt des Innern
  • Lohmann, Theodor (1831─1905) Geheimer Oberregierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Rottenburg, Dr. Franz von (1845─1907) Geheimer Regierungsrat, Chef der Reichskanzlei
  • 1BArchP 07.01 Nr. 509, fol. 192─195 Rs, mit Randbemerkungen und Unterstreichungen von Bismarck, die mit aa gekennzeichnet sind; die Datierung ist durch die Bearbeiter erfolgt. »
  • 2Wilhelm Graf von Bismarck (1852─1901) war von 1878 bis 1881 MdR (Deutsche Reichspartei), bei den Reichstagswahlen vom Herbst 1881 unterlag er aber dem Kandidaten der Liberalen Vereinigung Eduard Eberty in Berlin. Siegfried von Kardoff, der Sohn eines Gründers und Führers der Deutschen Reichspartei bzw. Freikonservativen Partei, der Partei “Bismarck sans phrase” hat die Fraktionsmitgliedschaft der Bismarcksöhne skeptisch gesehen: “Das war keine angenehme Zugabe für die Führer der Fraktion, denn die Söhne informierten natürlich den Vater über alles, was in der Fraktion verhandelt wurde, und mein Vater hat dadurch wiederholt sehr große Unannehmlichkeiten gehabt.” (Bismarck, Berlin 1929, S. 55) Eine entsprechende “konfidentielle Mitteilung” dürfte auch hier vorliegen, die entsprechenden kritischen Informationen (nebst den Anträgen und internen vertraulichen Protokollen, vgl. Nr. 83, 87 und 88) ─ mehr sind hier nicht überliefert, in den Akten des Reichsamtes des Innern und dem Nachlaß Lohmann befindet sich kein Stück! ─ dürften dem Grafen Bismarck wohl von einem konservativen Kommissionsmitglied oder von einem Regierungskommissar (Bödiker?) “gesteckt” worden sein; in diesem Zusammenhang verdient Lohrens spätere Äußerung, daß er Lohmanns Stellung “erschüttert” habe (vgl. Nr. 87 Anm. 12) besondere Beachtung. ─ Wilhelm Graf von Bismarck war zu diesem Zeitpunkt in der Rolle eines ständigen Hilfsarbeiters (Regierungsrat) ─ als “Amanuensis oder Sekretär” (Heinrich von Poschinger) ─ in der Reichskanzlei direkt für seinen Vater tätig. »
  • 3B.: Thema: Abstellung der Haftpflicht »
  • 4B.: gut, “ersten vier Wochen” unterstrichen »
  • 5Vgl. Nr. 79, aber auch Nr. 80 u. 81. »
  • 6B.: festzuhalten, als Vorschuß, und als Eventualität späterer Jahre »
  • 7B.: n(et) [in kyrillischer Schrift: nein, nicht] »
  • 8B.: n(et) »
  • 9B.: ? »
  • 10Vgl. dazu Nr. 83, 87 u. 88, insbes. Nr. 87 Anm. 6 und 88 Anm. 3. »
  • 11Vgl. Nr. 83 Anm. 5. »
  • 12Vgl. Nr. 88 Anm. 8. »
  • 13Vgl. Nr. 87. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 2. Band, 1. Teil, Nr. 89, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 2. Band, 1. Teil. Von der zweiten Unfallversicherungsvorlage bis zum Unfallversicherungsgesetz vom 6. Juli 1884. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

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