II. Abteilung, Band 1

Nr. 99

1890 Januar 15

Bericht1 des Gesandten Dr. Wilhelm Graf von Hohenthal und Bergen an den sächsischen Außenminister Alfred Graf von Fabrice

Ausfertigung

Auf Initiative Wilhelm II. will Sachsen einen eigenen Gesetzentwurf zum Arbeiterschutz in den Bundesrat einbringen, was noch vor den Reichstagswahlen geschehen soll; von Boetticher will hierfür Materialien aus dem Reichsamt des Innern zur Verfügung stellen

Seine Majestät der Kaiser hat heute den Staatsminister von Boetticher zu sich befohlen und nochmals die zwischen allerhöchstihm und dem Reichskanzler Fürsten Bismarck bestehenden Differenzen in bezug auf den Erlaß gesetzlicher Vorschriften zur Einschränkung der Sonntagsarbeit und der Frauen- und Kinderarbeit zur Sprache gebracht. Seine Majestät hat hierbei geäußert, daß er die ganze Angelegenheit eingehend mit Seiner Majestät dem König, unserm allergnädigsten Herrn, erörtert habe und daß sein erlauchter Verbündeter zu seiner großen Freude ein Vorgehen der königlich sächsischen Regierung im Bundesrat auf diesem Gebiet in Aussicht gestellt habe. Seine Majestät hat hinzugefügt, er werde schon dafür Sorge tragen, daß seine Regierung dieses Vorgehen unterstütze und daß Fürst Bismarck hieraus einen Anlaß, sich von den Geschäften zurückzuziehen, nicht entnehme.

Euer Exzellenz ist aus meiner früheren Berichterstattung über die Behandlung der aus der Initiative des Reichstags hervorgegangenen Arbeiterschutzgesetzentwürfe im Bundesrat bekannt, daß Herr von Boetticher schon mehrfach den Wunsch ausgesprochen hatte, die königlich sächsische Regierung möge in bezug auf diese Materie, zu deren Beurteilung sie aus vielen Gründen besonders befähigt sei, selbständige Anträge stellen.2 Ich habe daher Veranlassung genommen, über die Opportunität der [ Druckseite 455 ] Einbringung solcher Anträge im gegenwärtigen Augenblick mich mit ihm zu unterhalten und bin hierbei zu der Überzeugung gelangt, daß es sich mit Rücksicht auf die bevorstehenden Wahlen empfehlen wird, bald vorzugehen, und zwar dergestalt, daß vor dem 20. Februar3 wenigstens die eine Tatsache feststeht und öffentlich bekannt ist, daß die königliche Staatsregierung dem Bundesrat einen Arbeiterschutzgesetzentwurf vorgelegt hat. Diese Auffassung wird von Seiner Majestät dem Kaiser geteilt. Auch der Umstand, daß der Reichstag in der jetzt zu Ende gehenden Session die Arbeiterschutzanträge noch nicht in dritter Beratung erledigt hat, kann nach Ansicht des Herrn von Boetticher eine weitere Vertagung der Angelegenheit um deswillen nicht begründen, weil die Anträge so, wie sie gegenwärtig gefaßt sind, in materieller und formeller Beziehung zu Bedenken Anlaß geben.4

Da es nun andererseits auf der Hand liegt, daß es unmöglich oder doch wenigstens sehr schwierig ist, bis zum 20. Februar die beregten Gesetzentwürfe aufzustellen, so ist Herr von Boetticher erbötig, der königlichen Staatsregierung das im Reichsamt des Innern und im königlich preußischen Handelsministerium vorhandene Material zur Verfügung zu stellen. Der Minister hat auch bereits den Geheimen Oberregierungsrat Lohmann beauftragt, eine Sichtung dieses Materials vorzunehmen.5

Ich darf noch hinzufügen, daß Herr von Boetticher von einer bloßen Anregung im Bundesrat, wie dieselbe ja füglich auch in Frage kommen könnte, sich wenig Erfolg verspricht, weil der Reichskanzler einwenden würde, er könne nur einem formulierten Entwurf gegenüber Stellung nehmen.

Seine königliche Hoheit der Großherzog von Baden6 interessiert sich, wie mir Herr von Marschall7 gesagt hat, gleichfalls lebhaft für die Angelegenheit und würde jeden Antrag, welcher zur Regelung der Frage im arbeiterfreundlichen Sinn beitragen würde, lebhaft unterstützen.

Die königlich bayerische Regierung ist bis jetzt in bezug auf Arbeiterschutz sehr zurückhaltend gewesen.

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Registerinformationen

Regionen

  • Baden, Großherzogtum
  • Bayern, Königreich
  • Preußen

Personen

  • Aichbichler, Josef (1845–1912) , Bierbrauereibesitzer in Wolnzach (Oberbayern), MdR (Zentrum)
  • Baumbach, Dr. Karl (1844–1896) , Landrat in Sonnenberg, MdR (Freisinn)
  • Bismarck, Otto Fürst von (1815–1898) , Reichskanzler, preußischer Ministerpräsident, preußischer Handelsminister
  • Friedrich I. (1826–1907) , Großherzog von Baden
  • Hinzpeter, Dr. Georg (1827–1907) , Philologe, Geheimer Regierungsrat in Bielefeld, Erzieher Wilhelm II.
  • Hitze, Franz (1851–1921) , Priester, Generalsekretär des katholischen Unternehmerverbands „Arbeiterwohl“ in Mönchengladbach, MdPrAbgH, MdR (Zentrum)
  • Lieber, Dr. Ernst (1838–1902) , Jurist in Camberg (Kreis Limburg), MdR (Zentrum)
  • Lohmann, Theodor (1831–1905) , Geheimer Oberregierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Lohren, Arnold (1836–1901) , Rentier in Potsdam, MdR (Deutsche Reichspartei)
  • Marschall von Bieberstein, Adolf Freiherr (1842–1912) , Landgerichtsrat in Mannheim, MdR (konservativ); später: badischer Gesandter in Berlin
  • Schrader, Karl (1834–1913) , Eisenbahndirektor a. D. in Berlin, MdR (Freisinn)
  • Turban, Dr. Ludwig (1821–1898) , badischer Ministerpräsident, Außenminister, Innenminister

Sachindex

  • Bergarbeiterstreik
  • Handelsministerium, preußisches
  • Landtag
  • Landtag – preußischer
  • Normalarbeitstag
  • Regierung, siehe auch Bundesregierungen
  • Regierung, siehe auch Bundesregierungen – Bayern
  • Streik
  • Thronreden
  • Thronreden – 15.1.1890
  • 1SächsHStA Dresden Bestand 10717 Außenministerium Nr. 6184, n. fol. »
  • 2Vgl. Nr. 152, Nr. 168 und Nr. 174 Bd. 3 der II. Abteilung dieser Quellensammlung. »
  • 3Für den 20. Februar 1890 war der erste Wahlgang für den 8. Reichstag angesetzt. »
  • 4Seit Beginn der V. Session der 7. Legislaturperiode waren Anträge von Josef Aichbichler und Genossen (Drucksache Nr. 29 bzw. Nr. 30) und Arnold Lohren (Drucksache Nr. 40) zur Sonntags-, Frauen- und Kinderarbeit vorgelegt worden, deren erste Beratung am 25.11.1889 stattgefunden hatte (Sten.Ber. RT 7. LP V. Session 1889/1890, S. 471─498). Eine weitere Beratung bis zum Sessionsschluß am 25.1.1890 erfolgte nicht, so daß die Anträge formal unerledigt blieben. Ein Antrag der Abgeordneten Hitze und Dr. Lieber mit der Forderung nach einem Normalarbeitstag gelangte nicht einmal zur ersten Beratung (Drucksache Nr. 28). Außerdem lag dem Reichstag seit 12.11.1889 ein Antrag der Abgeordneten Dr. Baumbach und Schrader auf Beschluß einer Resolution vor, mit der der Bundesrat aufgefordert werden sollte, ein Arbeiterschutzgesetz vorzulegen (Drucksache Nr. 55). Dieser Antrag wurde am 24.1.1890 vom Reichstagsplenum angenommen (vgl. Nr. 196 Bd. 3 der II. Abteilung dieser Quellensammlung). »
  • 5Lohmann berichtete rückblickend, daß er vom sächsischen Gesandten gebeten worden sei, ihm einen Gesetzentwurf zu geben, der von der sächsischen Regierung eingebracht werden könne: Ich verneinte das, indem ich ihn auf d(ie) vom Reichstag 1887 u. 1888 angenommenen Entwürfe verwies (Theodor Lohmann, Aus den ersten Monaten des Jahres 1890; BArch N 2179 [Lohmann] Nr. 3, fol. 104 Rs.; vgl. Hans Rothfels, Zur Geschichte der Bismarckschen Innenpolitik, in: Archiv für Politik und Geschichte 4 [1926], S. 306). »
  • 6Friedrich I. (1826─1907), seit 1856 Großherzog von Baden. »
  • 7Adolf Freiherr Marschall von Bieberstein war seit 1883 badischer Gesandter in Berlin. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 99, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.01.00.0099

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