II. Abteilung, Band 1

Nr. 78

1888 [März]

[Ludwig Weber1] Die Behandlung der sozialen Frage auf evangelischer Seite2

Druck, Teildruck

Bericht über die Entwicklung evangelisch-sozialer Reformbestrebungen seit 1871

[...] Das Jahr 1870 kam. Das Deutsche Reich erstand. Auf der im Juli 1871 einberufenen großen kirchlichen Oktoberversammlung zu Berlin3, zu der evangelische Männer aller Stände und aus allen Teilen Deutschlands herbeiströmten, war neben dem von Ahlfeld und Frommel4 behandelten Thema: „Was haben wir zu tun, damit unserem Volk ein geistliches Erbe aus den großen Jahren 1870 und 1871 verbleibe?“ und der von Brückner5 eingeleiteten Frage nach einer engeren „Gemeinschaft der evangelischen Landeskirchen im Deutschen Reich“ auch „die Mitarbeit der evangelischen Kirche an den sozialen Aufgaben der Gegenwart“ als Thema aufgestellt. Dr. Wichern war Referent und Professor Ad[olph] Wagner Korreferent. Es war eine große, herzerhebende Versammlung, vor der die beiden Redner sprachen. Wicherns Vortrag war lang und dadurch etwas ermüdend, aber von ergreifender Innigkeit und Tiefe.6 Er schilderte die soziale Frage in ihrer Entwicklung innerhalb des letzten Jahrzehnts, wie der Plan zur Internationalen bei der ersten Londoner Industrieausstellung von 1862 entstanden sei, wie sie im Jahre 1864 ins Leben trat und ihren ersten Kongreß 1866, den zweiten 1869 hielt, wie dann in der Pariser Kommune sie sich vor aller Welt entschleiert und wie die soziale Frage sich plötzlich in dieser Gestalt als eine für die Revolution mustergültige Vereinigung von ca. drei Millionen Arbeitern herausgestellt habe, die über alle Völker Europas und Amerikas zerstreut seien. Er zeigte, wie in Dresden 150 Delegierte der Sozialdemokraten aus allen Gauen Deutschlands der Kirche in aller Form den Krieg erklärt hätten, weil sie ihre Aufgabe nicht erfüllt habe, „die dem Christentum zugrunde liegenden Ideen der Freiheit, der Gleichheit, der Brüderlichkeit zur Geltung und Anerkennung zu bringen, unter dem Schilde der Humanität, der Wahrheit und Gerechtigkeit unparteiisch in den Kampf für die Befreiung des Volkes vom Joch der Tyrannei und Willkürherrschaft in [ Druckseite 316 ] der Tat einzutreten und einer sittlichen und gesellschaftlichen Ordnung (die diesen Namen verdiene) das Wort zu reden“, und wie sie deshalb durch Austritt aus der Landeskirche und Durchführung der Trennung der Kirche vom Staat „das Bündnis der Gegner auf politischem und kirchlichem Gebiet zu vernichten und die am Ruder befindliche Gewalt ihrer mächtigsten Stütze zu berauben“ empfohlen hätten.7 Wichern wies sodann auf die furchtbare Mitschuld der gebildeten Klasse, der Professoren, Naturforscher, Philosophen, der Romanschreiber, der Presse, „der eleganten Sünder“ hin, wie fast alle in der Emanzipation vom positiven Christentum ─ und wie oft auch von seiner Sitte ─ das Heil des Volkes und ihr eigenes Heil gesucht hätten. „Dieser soziale Schaden ist die radikale Gesamtkrankheit unseres Geschlechtes an Haupt und Gliedern und jener Sozialismus im engeren Sinne nichts als eine reif gewordene Frucht des Baumes, den als sein eigenes Leben und Denken das Volk selbst großgezogen.“ Die Blindheit der gegenwärtigen Gesellschaft in weitesten Kreisen gegen das christliche Leben galt ihm als die Grundsünde in unserem Volk. Sodann ging Wichern auf die Frage ein, ob und wie diesem Schaden noch begegnet werden könne? Er beantwortete beide Fragen mit Ja!, aber er bekannte zugleich, daß er das Recht zu diesem Ja und den Mut dazu nur aus dem Christentum entnommen habe und daß nirgends sonst Recht und Mut dazu existiere. Er zeigte sodann, wie der in der sozialen Frage vorliegende Streit über die Wahrheit und das Recht des Gegensatzes des gesellschaftlichen und des individuellen Lebens und über das Verhältnis des einen zum andren nur im Christentum seine gesunde Ausgleichung finde und fragte dann: Wie ist die Stellung des lebendigen Christen und des wahren Christentums zu seinen Feinden? Ergreifend hob er das Gebot der Feindesliebe als das uns hier geltende hervor: lieben, damit der Feind zur Gegenliebe komme, nicht ruhen um Christi willen, der alle geliebt, als wir alle noch Feinde waren, als bis das Christentum, das Reich Gottes auch in den Feinden zu seinem Ziel gelangt, d. h. den Gegner, soweit er selbst darauf eingeht, mit der Wahrheit zur Liebe überwunden und gewonnen hat. Der Sozialist ist auch ein Mensch und noch nicht der Antichrist. So muß er denn zu dem Bewußtsein gebracht werden, „daß er gegen sich selber aufgestanden, wenn er Christum und dessen Reich, den wahren Sozialismus, den er aber nicht gekannt, von sich stößt“. Der Sozialist weiß nicht, was er tut; so muß denn dieser verlorene Sohn, der bereits bis zu den Trebern gelangt ist, durch das Evangelium und die aus ihm fließende Liebe dahin geführt werden, an seine Brust zu schlagen und zurückzukehren.

Nachdem Wichern sodann noch einmal untersucht, wie es möglich war, daß es innerhalb der christlichen Welt zu einem solchen falschen Sozialismus und der ihm entsprechenden Weltanschauung kommen konnte, und darauf hingewiesen, daß derselbe durch solche unheilschwangere Zustände und Umstände großgezogen sein müsse, die ihm eine gewisse geschichtliche Berechtigung zu geben schienen und daß auch in ihm Wahrheiten lägen, welche die Besitzenden anerkennen müßten, kam er zu der Aufgabe der evangelischen Kirche. Er betonte als erstes und grundlegendes: Anerkennung unserer Schuld und Bekenntnis derselben; das sei schon eine Tat, wie voller Wahrheit, so voller Kraft, mächtig und stark. Das erste Zeichen der bußfertigen Liebe sei dann aber die von Kirchen wegen zu verordnende Predigt auf unseren Kanzeln über diese Dinge und die Predigt der dienenden Liebe und des Zeugnisses [ Druckseite 317 ] an die abgewichenen Brüder selbst. Wichern meinte, die rechten Orte für das letztere seien Volksversammlungen und die rechten Männer dafür schlichte, einfache Männer aus dem Handwerker- und Arbeiterstand nach Art jener englischen Volksredner, eines Weaver8 in Rochdale, eines Jeremias Taylor9 u. a. „Es ist das freilich für uns Deutsche ein Neues, aber es gilt auch eben, energischer dem neuen Bahn zu brechen und in echt liebevoller Anwendung zu zeigen, was für Waffen dem deutschen Volksfreund für diese Arbeit bereits in die Hand gegeben sind. Wir kümmern uns zu wenig um diese Dinge!“ Wie hat doch ein Wichern hier Männer wie Stoecker, Schuster10, den Rednern des Vereins für christliche Volksbildung11 und jenem Bergmann und Begründer der Ev[angelischen] Arbeitervereine Rheinlands und Westfalens, L. Fischer12, den Weg gezeigt, auf dem sie gehen müßten! „Kann“ ─ so rief Wichern ergreifend aus ─ „nur der Nichtglaube oder Unglaube diese Wege der Teilnahme im Volke betreten? Oder ist der Kreis der tüchtigen Christen wirklich so eng und klein? Oder fürchtet man sich fälschlich, den Kreis zu erweitern? Oder wäre das Wort nur an einen Stand gebunden? Wer will das behaupten? Oder schweigen diese Stimmen unter uns aus Furcht oder Ungeschick oder aus welchem Grunde sonst? Dann müßten die Steine schreien!“ Dann wies Wichern auf das gedruckte Wort, die Presse, eine der anerkannten Großmächte der Zeit, hin. Er wandte sich namentlich an die nationalökonomischen Autoritäten, die auf christlicher Grundlage standen, daß sie ihr Ansehen und ihre Persönlichkeit der Presse gegenüber geltend machten und sich des Evangelii nicht schämten, „daß sie auf dem Gebiet der Wissenschaft wie im gemeinnützigen Wort rückhaltlos auf die Grundlagen des Evangeliums träten, die Blößen im Gebiet der Nationalökonomie, wo der Sozialismus einsetzt, aufdeckten und so die verwandten Geister auch für dieses Lebensgebiet herbeiriefen“. Wie hat dieses Wort in Professor Ad. Wagner, den zweiten Präsidenten der christlich-sozialen Partei13, und in manchem seiner Standesgenossen eine herrliche Erfüllung gefunden.

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Wichern kam endlich auf die Taten, die eherne Waffenrüstung, welche die Hauptburg des Feindes zuletzt erobern werde. Die Kirche sei die Stelle, welche allein zum Widerstand gegen den falschen Sozialismus wirklich geschickt sei. Aber sie müsse Freiwillige aufrufen. Sie müsse sich zunächst an die Familienväter wenden und diese an die Pflicht einer christlichen Haushaltsführung erinnern. Es gelte furchtlose Offenheit in der Aussprache über den falschen Sozialismus und ehrlichen Kampf. „Nichts scheint verheißungsreicher als die Unterbrechung dieser jetzigen Ruhe, um zu der Unruhe und dem Kampf zu führen, aus welchem die Wahrheit und die so höchst notwendige Sichtung hervorgehen wird.“ Es gelte, der sozialistischen Arbeitergesellschaft und deren Förderern das Terrain im Volke streitig zu machen, den Widerstand gegen sie in die Massen des Volkes hineinzuführen, und zwar durch das lebendige Wort. Und dann ging Wichern am Schluß seiner Rede noch auf sechs einzelne Gebiete ein, auf denen freiwillige persönliche Kräfte, ganz individuell oder in Gemeinschaft, reiche Gelegenheit zur Arbeit fänden. Es gelte, zunächst des kleinen, so schwer leidenden Handwerkerstandes sich anzunehmen. Man solle Teilnahme zeigen und moralische Hilfe bieten und für eine Neugeburt des Handwerks eintreten. Zweitens solle man den Sonntag dem Volke zurückerobern. Wer den Sonntag in seinem Leben verliere, verliere auch den Segen des Werkeltags. Dies ist ein Stück göttlicher Nationalökonomie. Die Sonntagsfrage ist eine soziale Frage der allerernstesten Art, göttlichen Charakters. Der Sonntag ist aber heute für manche Stände der eigentliche Tag der Sklaverei geworden, und man hat damit recht eigentlich an Gottes Reich einen Raub begangen, einen Raub, der sich furchtbar straft und fort und fort gestraft werden muß, einen Raub ─ wie Wichern sagt ─, über den uns die Sozialisten schamrot gemacht, die dieses Stück Christentum an sich gebracht haben. 3) Wendete Wichern dies insbesondere auf die ländlichen Tagelöhner an, über deren oft so schlechte Wohnung und herbe, kalte, teilnahmlose Behandlung er klagte. Das lasse notwendig die Leute selbst oder doch ihre Liebe zum Vaterland und zu den landbesitzenden Herrschaften auswandern und sich erst in der Freiheit jenseits des Meeres wieder niederlassen. Auch hier kulminiert die herbe Behandlung in dem den Arbeitern entzogenen Sonntag. Da müßten denn gemeinschaftlich viele Stimmen aus der Christenheit sich erheben und viele Hände zugleich dazutun, um dem Volk zum Sonntag zu helfen und ihm auch Sonntagsfreude wiederzugeben. 4) Ging Wichern ein auf die Prostitution, das Elend der gefallenen Mädchen, indem er sagte: Wenn die männlichen Arbeiter, die Genossen der Arbeitervereine sich und ihren Familien zu helfen suchen, was wird dagegen aus den vielen weiblichen Wesen, die in derselben Weise in ungeheurer Zahl um ihre menschliche Existenz ringen und, wenn ihnen das nicht gelingt, in die schmählichste Sünde und Schande, alle Schranken überschreitend, an der Hand des brutalen Teiles des männlichen Christengeschlechts verfallen. Diese furchtbare Welt der Not und Schande, deren Wachstum gerade in unsrer Zeit unerhört sei, aus der die Pariser Kommune ihre Petroleusen14 entnommen ─ sie müsse durch viele Hilfsanstalten dienender Liebe und durch helfende Männer und Frauen nach Art eines Lord Shaftesbury15 und [ Druckseite 319 ] seiner Gemahlin bekämpft werden. 5) Kam Wichern auf das eigentliche Proletariat in den großen Städten, das unter den Tagelöhnern und Fabrikarbeitern als Unterlage des künftigen fünften Standes steht und das, wenn es nicht viel Liebe und Hilfe erfährt, immer rascher samt seinen Familien in den Boden der Verbrecherwelt hineingetrieben wird und in denselben bei der Verachtung, mit welcher man auf die Bestraften pharisäisch herabsieht, immer fester hineingerät. Wir könnten sie noch heute als Freunde erwerben, wenn wir der Tat Christi gedächten, der sich oft darüber verteidigen mußte, daß er mit den Zöllnern aß, der sich in seiner majestätischen Höhe nicht schämte, zu ihnen sich herunterzulassen. Auf Christi Demut und Christi Sanftmut kommt es auch hier an, solche arme und verlorne Sünder zu gewinnen. Wichern dachte dabei an Patronate oder Schutzverhältnisse einzelner zu den einzelnen, die freilich große Aufopferung erforderten. Aber die soziale Umkehr und Besserung bestehe wesentlich mit in solchen persönlichen Leistungen. Vornehme und Geringe müßten sich freiwillig stellen, um in der Kirche Dienst den Dienst der um Christi willen helfenden Liebe zu tun. Sechstens aber ─ und das bildet den gewaltigen Schluß seiner Rede ─ wandte sich Wichern an den Geld- und Geburtsadel der Nation. Er mahnte ernstlich wegen all der sozialen, auf den Bestand der Gesellschaft einwirkenden Begehungs- und Unterlassungssünden, die neben den edlen Ausnahmen Legion seien. Dünkel und Stolz, Verschwendung, Geld- und Börsenschwindel, Mißachtung der unteren Klassen, Kargheit und Geiz müßten abgetan werden. Er fragt: Was könnte unter uns der Geld- und Geburtsadel ausrichten, wenn er nur wollte und sich auf den Reichtum einer christlichen Gesinnung und die derselben verwandten Tugenden stützte und in diesem Sinn, Güter und Segen spendend, Liebe säen und Liebe ernten wollte? Er mahnt, daß da, wo Menschen- und Dienstverhältnisse walten, wie auf Landgütern, in Fabriketablissements, die Vorstände sich als Familienvorstände ansehen und verhalten lernten, und wo sie das jetzt schon täten, darin verharrten. Sie sollten ihre Gutsinsassen und Fabrikarbeiter gewissermaßen als selbständig gewordene, herangewachsene Söhne und Töchter ansehen und behandeln. Auch da werde es dann freilich widerstrebende Kinder geben, aber neben diesen auch andere, und die Widerwärtigen sollten wieder zur Selbsterziehung der höherstehenden Erzieher dienen. Die aber Geld verdienten, sollten über sich wachen, daß sie Geld und Gut als Gottes Darlehen betrachten lernten, welches nicht ihnen, sondern ihrem Herrn und Gott und damit auch seinem Reich gehörte und worüber sie Rechenschaft zu geben hätten.

Wichern schloß seine gewaltige Rede mit einem den Inhalt derselben zusammenfassenden Antrag und einem Appell an den Glauben seiner Zuhörer. „Der in Euch ist, ist größer, als der in der Welt ist.“ „Gott ist unsere Zuversicht und Stärke, eine Hilfe in den großen Nöten, die uns getroffen haben.“ „Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat!“

Wir haben Wicherns Rede so genau skizziert, weil sie das erste, in großartiger Weise öffentlich sich vollziehende Eintreten der inneren Mission der deutschen evangelischen Kirche in die Behandlung der sozialen Frage im engeren Sinne ist. Wagners Korreferat war seiner würdig, knapp, klar, scharf, überzeugend.16 Er gab [ Druckseite 320 ] zunächst eine Kritik der bisherigen Wissenschaft der Nationalökonomie, die sich vornehmlich mit der Erforschung des natürlichen Werdens und Seins der wirtschaftlichen Vorgänge begnügt habe. Es gelte demgegenüber erneute Betonung des ethischen, sittlichen Moments in den Verhältnissen der Volkswirtschaft. Entgegen dem sittlichen Indifferentismus im Gebiete der wirtschaftlichen Handlungen müßten wieder ethische Grundsätze zur Geltung kommen. Dies gelte zuvörderst von den Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, aber auch für die höheren, wohlhabenden Klassen im ganzen. Er erinnerte an den übertriebenen, oft so geschmacklosen Luxus, an den auch in Deutschland vorkommenden unverantwortlichen Mißbrauch des Eigentumsrechts der Großgrundbesitzer, an die Bauplatzspekulationen und Steigerung der Wohnungsmieten in den großen Städten und kam dann auf die Staatshilfe, die neben der Selbsthilfe berechtigt sei. In der unbedingten, das andre Prinzip möglichst ausschließenden Gegenüberstellung beider könne er nur einen Kampf mit Schlagworten sehen. Nachdem er die Konsequenzen einer mehr ethischen Auffassung der wirtschaftlichen Beziehungen im großen und ganzen vorgeführt, ging er dann auf die Vorschläge zur Abhilfe der sozialen Notstände ein und unterschied drei Gruppen: die Gruppe der reaktionären, der radikalen und der Reformpläne. Die eine Partei (und damit traf er wesentliche Schwächen der katholischsozialen Reformpläne, siehe Uhlhorn17: Katholizismus und Protestantismus gegenüber der sozialen Frage18, S. 9 und 10 über Hitze19 und Périn20) sehe die Abhilfe in der Rückkehr zu den früheren wesentlichen Beschränkungen der freien Konkurrenz und gebe die Vorteile der freien Konkurrenz, den Großbetrieb, das Maschinenwesen, die bessere Arbeitsteilung, daher die große und billige Produktion meistens preis. Die zweite Gruppe umfasse die radikalen Projekte der weitgehenden Sozialisten. Hier werde in einseitigster Übertreibung das bestehende Gesellschafts-, Wirtschafts- und Privatrechtssystem zur alleinigen Ursache der gedrückten Lage der untern Klassen der Arbeiter gemacht. Und für die Durchführung der Projekte werde immer offener an die Gewalt appelliert, „die Geburtshelferin jedes großen sozialen und politischen Fortschritts“. Die dritte Reihe umfasse die Reformpläne, wo der Boden der Wirklichkeit anerkannt und Abhilfe auf dem Wege der passenden Weiterentwicklung und, soweit es sein muß, der Modifikation des Bestehenden gesucht werde. Reform sei weder Umsturz, noch Stillstand, noch Rückschritt. Und endlich ging Wagner im dritten Teil auf die wirtschaftlichen Bedingungen einer Hebung der unteren, insbesondere der Arbeiterklassen und die Rückwirkung davon auf die höheren Klassen sowie im vierten Teil auf die einzelnen Reformvorschläge ein. Wir können natürlich das einzelne nicht wiedergeben. Aber eine wahre Fundgrube volkswirtschaftlicher Weisheit ist in diesem Vortrag enthalten. Und Wagners Gedanken sind jetzt [ Druckseite 321 ] schon in vielen Richtungen durchgeführt, ein Beweis, wie zeitgemäß sie waren. Nach einer kurzen Diskussion sprach die Versammlung beiden Referenten für ihre anregenden Vorträge ihren herzlichen Dank aus, „erklärte sich im wesentlichen mit den von ihnen gemachten Vorschlägen einverstanden und gelobte, jeder an seinem Teil und jeder in seinem Beruf an den sozialen Aufgaben der Gegenwart mitzuarbeiten“.

Unterdes war auch schon eine Frucht auf literarischem Gebiet herangereift, welche die Gedanken der Oktoberversammlung den Fabrikantenkreisen in eingehenderer Begründung nahebringen und auseinanderlegen sollte. Im Jahre 1870 schon hatte der Zentralausschuß für innere Mission einen Kongreß industrieller Arbeitgeber berufen,21 an dem auch Gleichgesinnte aus Frankreich und aus der Schweiz sich beteiligten; eine Frucht desselben war die leider nur zu bald wieder eingegangene herrliche Zeitschrift „Concordia“22. Eine geistvollere Zeitschrift ist sicher auf sozialem Gebiet nie herausgegeben worden. Ihre Charakteristik gibt sie selbst bzw. ihr Herausgeber B. [sic!] Nagel23 (Verfasser auch des Buches: „Der christliche Glaube und die menschliche Freiheit“24) in folgenden Worten der ersten Nummer (vom 1. Oktober 1871): „Wenn wir mit einem Wort als den Kern der Aufgabe in der Arbeiterfrage die Christianisierung der Industrie bezeichnen, so mögen andere statt dessen ‚Humanisierung‘ sagen; das, worauf es ankommt ist, daß beiderlei Bekenner mit ihren christlichen oder humanen Prinzipien wahrhaften und tätigen Ernst machen, sie auch auf dem sozialen und wirtschaftlichen Gebiet in das Leben übertragen.“25 Hierzu hat die Zeitschrift durch ihr „Repertorium“, ihre Leitartikel über die Arbeiterfrage im allgemeinen, über Bildungsfragen, Fabrikgesetzgebung und Gewerbeordnung, Schiedsgerichte und Einigungsämter, korporative Einrichtungen, Kassenwesen der Arbeiter, ländliche Arbeiterverhältnisse, Lohnfragen und Lohnstatistik, Wohnungsfrage u. a. reichlich und in anregendster Weise beigetragen.

Es kam die Zeit der Milliarden und des Gründungsschwindels, der fieberhaft erhitzten Spekulation und der wüst ins Kraut schießenden Sozialdemokratie. Die „Concordia“ ging wieder ein, weil sich nicht so viele christliche Fabrikanten in Deutschland fanden, um das Blatt zu halten. Wohl wurde der literarische Kampf gegen die Sozialdemokratie durch Schusters treffliches Buch,26 auf das der Minister Graf Eulenburg27 in der Kammer sich berief, durch v. Sybels28 schneidigen Angriff [ Druckseite 322 ] (Die Lehre[n] des heutigen Sozialismus und Kommunismus29), durch Broschüren eines von dem jetzigen Provinzialschulrat Kannegießer30 herausgegebenen Broschürenzyklus und durch die hochbedeutsamen Verhandlungen zwischen dem Minister a. D. v. Schäffle31 und dem Geheimen Rat a. D. Wagener32 über das Berechtigte im Sozialismus fortgeführt.33 Auch waren die Kathedersozialisten, wie A. Wagner, Schmoller34, Nasse35, Schönberg36, von Scheel37, Contzen38 u. a. wacker daran, in Fachkreisen aufklärend über die sittlich-religiöse Bedeutung der sozialen Frage und die Notwendigkeit eines Eingreifens des Staates zu wirken.39 Ferner gab der dänischevangelische Bischof Martensen40 als Separatabdruck aus seiner Ethik41 den Abschnitt über Sozialismus und Christentum heraus,42 eine Broschüre, die auf den Fürsten Reichskanzler einen bedeutenden Eindruck gemacht haben soll. Er sagte darin u. a.: „Es heißt nicht in der Bibel: ‚Du sollst im Schweiße deines Angesichts arbeiten, aber dein Brot bekommst du nicht.‘43 Das Christentum lehrt ebenfalls: ‚Ein Arbeiter ist seines Lohnes wert‘ (Lukas 10,7) und fordert ein gerechtes Verhältnis zwischen Arbeit und Lohn; es spricht (Jakobus 5,4) scharfen Tadel über jegliche Ausbeutung des Arbeiters aus. ‚Unser tägliches Brot gibt uns heute‘ heißt es im [ Druckseite 323 ] Gebet des Herrn, wir sollen also nicht bloß für uns, sondern auch für andere um das tägliche Brot bitten, und Aufgabe der Gemeinschaft muß es sein, dem Arbeiter möglichst zum Eintritt in den Mittelstand und zu einem gesicherten Dasein durch Rat und Tat zu verhelfen.“ Auch Arbeitgeber sprachen in demselben Sinn, so vor allem der Kommerzienrat Quistorp44 in seinem trefflichen Vortrag über den Kern der Arbeiterfrage45, worin er u. a. sagte: „Wenn wir Arbeitgeber den Weg der Umkehr von der Selbstsucht zur Liebe gehen lernen, dann wird die Arbeiterfrage in der rechten Weise gelöst werden, aber auch nur dann, verlassen Sie sich darauf!“

Und es geschah von vielen einzelnen Großartiges zum Besten der Arbeiter, so (wir nennen nur Evangelische) von Quistorp, Stumm, Krupp46, Baare47, Mez48, Heyl49, Sarasin50 u. a. In Bayern bestanden nach amtlicher Erhebung schon in der Mitte der siebenziger Jahre bei 672 [recte: 692] Großindustrie-Etablissements 2 478 (= 3,58 auf das einzelne Etablissement) Veranstaltungen zum Wohle der Arbeiter.51

Aber dennoch kam die soziale Frage in lebendigere Bewegung erst wieder durch das Buch eines evangelischen Geistlichen, das berühmte Buch von Rud. Todt52, dem leider schon Verstorbenen: „Der radikale deutsche Sozialismus und die christliche Gesellschaft“ (1877)53. Im Jahre 1873 hatte der Hofprediger Stoecker in der Neuen Ev[angelischen] Kirchenzeitung die Frage aufgeworfen: Warum fehlt es noch immer an einer Darstellung der sozialen Anschauungen des Neuen Testaments?54 Das veranlaßte Todt zur Abfassung seines Buchs. Der soziale Inhalt des Christentums und die sozialen Aufgaben der christlichen Gesellschaft wurden darin darzustellen versucht. Dem Buch bleibt trotz seiner Mängel, die bei der ersten Erörterung so schwieriger Dinge in systematischem Zusammenhang natürlich sind, das Verdienst, in weiten Kreisen das Interesse für die soziale Frage angeregt und dasselbe in energischer Weise unter den christlichen Gesichtspunkt gerückt zu haben. Am 5. Dezember 1877 wurde dann der Zentralverein für soziale Reform auf religiöser und konstitutioneller Grundlage unter Mitwirkung von Stoecker und Todt gegründet.55

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Seine Veröffentlichungen wie die von ihm ausgehende Zeitschrift „Der Staatssozialist“56 schlugen wie Blitze in die Gemüter. Für das Berechtigte in den sozialistischen Forderungen wollte er die Anhänger der Monarchie und die Freunde der Kirche gewinnen. Und es fehlte ihm, trotz seines bisweilen etwas zu kühnen Auftretens nicht an beifälligen Stimmen in allen politischen Lagern bis in die Kreise der Nationalliberalen hinein. Dann kam am 3. Januar 1878 das denkwürdige Auftreten Stoeckers57 auf dem Eiskeller in Berlin vor Most58 und Genossen und damit die Begründung der christlich-sozialen Arbeiterpartei59, dieser erste Schritt in das praktisch-politische Leben hinein. Wir wollen das Urteil eines Gegners Stoeckers in bezug auf manche prinzipielle Auffassungen desselben, das des Prälaten Uhlhorn, über sein erstes Auftreten wiedergeben. Derselbe sagt in seiner Broschüre „Katholizismus und Protestantismus gegenüber der sozialen Frage“, S. 34: „Stoecker sagt einmal: ‚Mich trieb die Angst um mein Volk in die christlich-soziale Bewegung hinein. Ich sah in der sozialen Frage einen Abgrund, der vor dem deutschen Leben klafft. Ich bin hineingesprungen, zuerst ohne die Tiefe zu ermessen, weil ich nicht anders konnte.‘ Je entschiedener ich mich später gegen Stoeckers Tätigkeit auf diesem Gebiet erklären muß, desto mehr ist mir‘s ein Bedürfnis, die in diesen Worten zutage tretende Gesinnung erst einmal warm und herzlich anzuerkennen. Ich kann nur wünschen, daß solche Angst um unser Volk recht vielen, besonders auch vielen Geistlichen schwer aufs Herz fallen möchte.“ Stoecker hat übrigens Uhlhorns Kritik seines Standpunktes, die teilweise auf Mißverständnissen beruht, in den Nummern 16─20 seiner „Deutschen Evangelischen Kirchenzeitung“ vom vorigen Jahr60, wie uns scheint, siegreich zurückgewiesen. Er nannte es einen grundlegenden Irrtum Uhlhorns, daß die soziale Frage nur eine wirtschaftliche und lediglich aus der modernen Produktionsweise abzuleiten sei. Er zeigt die Widersprüche in Uhlhorns Auffassung der Maschine, die er auf der einen Seite verherrlicht, während er dann später die Arbeit an der Maschine eine auf die Dauer abstumpfend, geisttötend wirkende nennt und von dem modernen Fabrikarbeiter sagt: Der Arbeiter ist für sich allein nichts mehr, er ist nur etwas in dem ganzen Zusammenhang der Fabrik, aus dem Betrieb herausgerissen, hilfloser als ein Wilder, abhängiger von dem Maschinenbesitzer als der frühere Hörige von seinem Grundherrn. Stoecker sagt mit Recht: „Wir begreifen nicht, wie G. Uhlhorn diesen Abschnitt damit beschließt, daß er resigniert ausruft: ‚Wie da zu helfen ist, überlasse ich denen, die Gott dazu berufen [ Druckseite 325 ] hat. Auf kirchlichem Standpunkt stehe ich dem allen neutral gegenüber.‘“ Und dann sagt Uhlhorn doch: „Die Kirche wird sich nicht bloß jeder wirtschaftlichen Besserung freuen, sie wird auch alle dahin gehenden Bestrebungen unterstützen.“ Stoecker fragt mit Recht, wie die Kirche auf dem Uhlhornschen Standpunkt auch nur ein Urteil darüber gewinnen solle, welche Bestrebungen zur Besserung führen und welche nicht.

Die christlich-soziale Partei dachte anders. Sie stand auf dem Grund, den Stoecker in einem Vortrag (die Bibel und die soziale Frage61) so präzisiert: „Eine soziale Gesetzgebung finden wir im Neuen Testament nicht; der Buchstabe der Satzung wird zum Geist. Aber in der Form des Geistes finden wir alle Grundsätze des Alten Testamentes wieder, nur verklärt zu allgemeinen menschen- und weltbeherrschenden Prinzipien, geschrieben nicht auf steinerne Tafeln, sondern in das Gewissen. Der Mensch mit seinem Hab und Gut ist nicht Eigentümer, sondern Haushalter; das bloße Sammeln irdischer Schätze ist keine des Christen würdige Arbeit; Bruderliebe, Barmherzigkeit ist höchste Pflicht, ohne deren Erfüllung man nicht selig wird. So hat Christus, so haben seine Apostel jene drei Mißstände des sozialen Lebens angefaßt und zu überwinden versucht. Wir sehen deutlich ─ vertieft und vergeistigt kehren die Gedanken wieder, welche dem Gesetz Gottes zugrunde lagen!“ Von dieser Erklärung, meinte Stoecker gegen Uhlhorn 1887,62 braucht man nichts zurückzunehmen, sie ist unbezweifelt richtig; und eine Fülle von Bemerkungen, welche die Bedeutung der Persönlichkeit, der Familie, der Gemeinde, des Reiches Gottes für die soziale Welt betonen, den Einfluß des Glaubens, des Gebetes auf das soziale Verständnis erörtern, ist hinzugefügt. Weiter heißt es in jener Broschüre: „Die ganze Atmosphäre der Bibel ist von Ideen durchzogen, die als fruchtbare Keime in der sozialen Welt ihre Kraft beweisen.“

Und endlich ist in dem Vortrag zum Schluß klar und präzis angegeben, was die Kirche tun solle: „Ein Vereinsleben schaffen, pflegen, fördern, das nicht bloß religiös, sondern auch sozial arbeitet und seine Mitglieder dazu erzieht, die christlichen Ideen öffentlich zu vertreten.“

Ein solches Vereinsleben hat die „Christlich-soziale Partei“ darstellen wollen. Wenn wir ihr Programm ansehn, so finden sich zuerst vier allgemeine Grundsätze aufgestellt: 1. Die christlich-soziale Arbeiterpartei steht auf dem Boden des christlichen Glaubens und der Liebe zu König und Vaterland. 2. Sie verwirft die gegenwärtige Sozialdemokratie als unpraktisch, unchristlich und unpatriotisch. 3. Sie erstrebt eine friedliche Organisation der Arbeiter, um in Gemeinschaft mit den andren Faktoren des Staatslebens die notwendigen praktischen Reformen anzubahnen. 4. Sie verfolgt als Ziel die Verringerung der Kluft zwischen Reich und Arm und die Herbeiführung einer größeren ökonomischen Sicherheit.63 Wir übergehen die Einzelforderungen an die Staatshilfe, betreffend Arbeiterorganisation, Arbeiterschutz, Staatsbetrieb und Besteuerung, und heben nur die Forderungen an die Geistlichkeit, an die besitzenden Klassen und an die Selbsthilfe der Glieder hervor. Von der Geistlichkeit wird verlangt „die liebevolle und tätige Teilnahme an allen Bestrebungen, welche [ Druckseite 326 ] auf eine Erhöhung des leiblichen und geistigen Wohles sowie auf die sittlichreligiöse Erhebung des gesamten Volkes gerichtet sind“; von den besitzenden Klassen „ein bereitwilliges Entgegenkommen gegen die berechtigten Forderungen der Nichtbesitzenden, speziell durch Einwirkung auf die Gesetzgebung, durch tunlichste Erhöhung der Löhne und Abkürzung der Arbeitszeit“; endlich von der Selbsthilfe „a. freudige Unterstützung der fachgenossenschaftlichen Organisation als eines Ersatzes dessen, was in den Zünften gut und brauchbar war; b. Hochhaltung der persönlichen und Berufsehre, Verbannung aller Roheit aus den Vergnügungen und Pflege des Familienlebens in christlichem Geiste“. Professor von Scheel, der berühmte Nationalökonom, hat das Programm im wesentlichen anerkannt, und der Gang der deutschen Sozialpolitik hat in kurzer Zeit der christlich-sozialen Bewegung nach vielen Richtungen hin Recht gegeben. Es ist jedenfalls eine göttliche Fügung gewesen, daß Stoecker noch vor den Attentaten64 und vor dem Sozialistengesetz mit todverachtendem Mannesmut, frei, allein, ein Mann mit Gott, der Sozialdemokratie entgegengetreten ist. Und daß durch die christlich-soziale Partei eine ganz ungeheure Anregung in alle christlichen Kreise Deutschlands, ja über Deutschlands Grenzen hinaus ergangen ist, können auch Feinde nicht bestreiten.

Wir müssen zum Schluß eilen und können nur noch kurz einige bedeutungsvolle Tatsachen registrieren. Am 17. November 1881 erschien die „Kaiserliche Botschaft“, welche nach der einen Richtung hin als Programm der Sicherung der Arbeiterexistenz aufgrund von christlich gedachten Korporationen nahezu die Erfüllung der christlich-sozialen Hoffnungen brachte. Nur die evangelischen Sozialpolitiker haben mit ihrer hohen Auffassung von Staat diese Botschaft positiv vorbereitet und der Sozialpolitik der Regierung die Bahn gebrochen. Die katholische Sozialpolitik ist doch immer durch ihre einseitige Voranstellung der Kirche gebunden gewesen. Die innere Schwachheit der katholischen Kirche mit ihrem Mönchsideal bei aller äußeren Rührigkeit, ihre scheinbare Autorität bei revolutionären Neigungen, ihr Spielen mit dem Sozialismus wie mit der Demokratie, ihre ganze Vermessenheit in dem (jetzt etwas gedämpften) Anspruch, die soziale Frage allein mit kirchlichen Mitteln lösen zu wollen, hat Uhlhorn in seiner Broschüre vortrefflich dargelegt. Vielleicht soll eine der jetzigen folgende Flugschrift eine Überschau über den augenblicklichen Stand der katholisch-sozialen und sozialpolitischen Bewegung geben.

Von nun an ertönten vom Regierungstisch als das Losungswort der Zukunft wieder die Worte: „christliche Staatsidee, praktisches Christentum, christliches Volksleben“. „Der Schutz der Schwachen in Demut und Nächstenliebe“ ward gefeiert und anempfohlen. Und als Antwort des dankbaren Volkes auf seines Kaisers hochherzige Intentionen entstanden in Westfalen und am Niederrhein die evangelischen Arbeitervereine.65 Der Bergmann L. Fischer war es, der Ende April oder anfangs Mai 1882 in Gelsenkirchen zuerst mit seinen Geistlichen die Sache besprach und dann in Gemeinschaft mit dem Lehrer Bischof66 am 29. Mai 1882 öffentlich den Anfang machte. Der Gegensatz gegen den Ultramontanismus der christlich-sozialen Vereine, also ein religiöses Motiv, dann aber auch das vaterländische und das soziale sind der Ursprung dieser Bewegung gewesen. Ihre allen Einzelvereinen gemeinsame Parole [ Druckseite 327 ] ist: „Weckung und Stärkung des evangelischen Bewußtseins und treues Halten zu Kaiser und Reich sowie Pflege und Wahrung eines friedlichen Verhältnisses zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer.“ Daneben haben die Vereine auch die sittliche Hebung und allgemeine Bildung ihrer Mitglieder sowie die Unterstützung derselben in Krankheits- und Todesfällen zum Zweck. Von dem kleinen Anfang in Gelsenkirchen ist die Sache zu mehr als 60 Vereinen in den fünf Jahren emporgestiegen, von denen allerdings 4/5 in dem niederrheinisch-westfälischen Kohlen- und Eisenrevier liegen. 46 Vereine gehören dem Verband an (mit über 15 000 Mitgliedern).67 An der Spitze des Verbandes steht der Bauunternehmer W. Böhm68 in Essen, und der Schreiber dieses darf es sich auch zur Freude und Ehre anrechnen, Ehrenmitglied des Verbandsvorstandes zu sein. Geschrieben haben über die Sache die Pfarrer Deutelmoser69 (Vortrag, in Kommission bei E. Bänsch in Magdeburg, 20 Pfennige) und Lic. Sopp70 (Vortrag, Bochum, 30 Pfennige). Das offizielle Organ des Verbandes ist der Evangelische Arbeiterbote71, eine trefflich redigierte Arbeiterzeitung, die auch Politik bringt (erscheint wöchentlich einmal mit Familienbeilage zum Preis von 60 Pfennigen vierteljährlich bei H. Hundt in Hattingen). Welche Bedeutung die Arbeitervereine schon gewonnen haben, geht daraus hervor, daß bei dem letzten Arbeiterverbandsfest in Iserlohn72, zu dem Tausende herbeigeströmt und die ganze Stadt festlich geschmückt war, der Regierungspräsident von Rosen73 den Vereinen offiziell den Dank Seiner Majestät des Kaisers aussprach, daß sie den Staat stützten und schützten und daß Prinz Wilhelm ein an ihn und seine hohe Gemahlin erlassenes Telegramm sofort mit den freundlichsten Wünschen beantwortete.74 Nachdem der erste Begründer, L. Fischer, seit dem 1. Oktober v. J. als Verbandsagent angestellt ist, haben die Vereine auch eine Instruktion für ihn und sein gesamtes Auftreten festgestellt. In der Kommission für diesen Zweck sind neben dem Verbandsvorsitzenden und einem Zeitungsredakteur ein Fabrikdirektor, vier Arbeiter und vier Pfarrer gewesen. Leider hat sich die Bewegung, außer in Bayern, wo es auch noch eine größere Zahl evangelischer Arbeitervereine gibt, sonst nur sporadisch zur Geltung gebracht. In Breslau, Liegnitz, Wilkau (Sachsen) und Freiburg (Baden) existieren ähnliche Vereine. Gott gebe, daß ein dichtes Netz sich bald über ganz Deutschland breite! Not tut es! Und die Zeit ist jetzt so günstig, wie sie nicht wiederkommen wird. Daß auch in Fabrikantenkreisen es sich regt, zeigt unter andrem die Begründung [ Druckseite 328 ] des höchst nachahmungswerten bergischen Vereins für Gemeinwohl, dessen ersten Bericht wir jedem gern zur Verfügung stellen.

Doch nun zum Schluß zwei Tatsachen noch zur Beleuchtung unseres Themas! Der preußische evangelische Oberkirchenrat erließ im Jahre 1878 einen der christlich-sozialen Parteisache nicht günstigen Erlaß75, worin er aber trotzdem die Geistlichen aufforderte, bei der Organisation wechselseitiger Unterstützung, bei der Einrichtung von Altersversorgungs- und Sparkassen, bei der Fürsorge für die Frauen, die Kinder, die Kranken, für gesunde Wohnungen und angemessene Erholungsstätten der Arbeiter mitzuwirken ─ lauter nicht bloß ethisch-soziale, sondern volkswirtschaftliche und sozialpolitische Arbeiten.

Wiederum sechs Jahre später und der Zentralausschuß der Inneren Mission veröffentlichte über die Aufgabe der Kirche und ihrer Inneren Mission gegenüber den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kämpfen der Gegenwart eine klassische Denkschrift76, welche sich in keiner Weise scheute, Kirche und Innere Mission auf bestimmte politische Aufgaben hinzuweisen und ihre Mitarbeit dazu zu fordern. Der Schluß ihrer mit der Verurteilung des demokratischen Sozialismus wie des ökonomischen Liberalismus beginnenden, dann wesentlich das Persönliche und Sittliche betonenden, aber zuletzt in das Sozialpolitische ausmündenden Gedankengänge ist folgender:

1. Bei allem Ernst, mit welchem Kirche und Innere Mission die sittlichen Anforderungen geltend zu machen haben, welche sich für die verschiedenen Kreise aus unseren sozialen Notständen und Kämpfen ergeben, dürfen doch auch sie die Tatsache nicht übersehen, daß die moderne wirtschaftliche Entwicklung Zustände geschaffen hat, welche die Freiheit des einzelnen auf dem Gebiete seines wirtschaftlichen Handelns dem einzelnen nur dadurch wiedergegeben werden, daß der Willkür aller durch allgemeine zwingende Vorschriften Schranken gesetzt werden.

2. Dahin zielen alle staatlichen Gesetze, welche zugunsten des Arbeiters, als des schwächeren Teiles, die Freiheit des Arbeitsvertrages beschränken:

Die Beschränkungen der Beschäftigung von Arbeiterinnen und jugendlichen Arbeitern, die Vorschriften zum Schutze der Arbeiter gegen die mit ihrer Beschäftigung verbundenen Gefahren für Leben und Gesundheit, das Verbot der Sonntagsarbeit, die Bestimmungen über Innehaltung einer Normal-(richtiger Maximal-)Arbeitszeit, endlich auch die Arbeiterversicherungsgesetze.

3. Kirche und Innere Mission werden, um ihrer Aufgabe auf dem sozialen Gebiet gerecht zu werden, den hierauf gerichteten Bestrebungen, durch welche ihrer Arbeit vielfach erst wieder offene Bahn geschaffen werden muß, auch ihrerseits nicht teilnahmslos gegenüberstehen dürfen, sondern mit ihren Mitteln durch Einwirkung auf die öffentliche Meinung und Unterstützung der zur Erreichung dieser Ziele sich bildenden Vereinigungen dahin wirken, daß

a. die Jugend gegen körperliche, geistige und sittliche Verkümmerung durch weitere Entwicklung der Gesetzgebung über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter geschützt werde, [ Druckseite 329 ] b. daß der natürliche Beruf des Weibes für die Familie durch gesetzliche Regelung der Beschäftigung von Arbeiterinnen, unter besonderer Berücksichtigung der verheirateten Frauen, anerkannt werde,

c. daß die Sonntagsruhe durch gesetzliches Verbot der Beschäftigung mit gewerblicher Arbeit, soweit diese nicht ihrer Natur nach keine Unterbrechung gestattet oder durch besondere Notlage geboten ist, hergestellt werde,

4. daß auch die erwachsenen männlichen Arbeiter gegen eine die Erhaltung der Arbeitskraft gefährdende Überanstrengung und gegen eine die Teilnahme am Familienleben ausschließende Ausdehnung der Arbeitszeit durch gesetzliche Feststellung eines ─ unter Berücksichtigung der Besonderheiten der verschiedenen Zweige produktiver Tätigkeit zu bemessenden ─ Maximalarbeitstages geschützt werden,

5. daß, sofern und so lange eine internationale Regelung dieser Verhältnisse nicht zu ermöglichen ist, die Gefahr, welche den solchen Beschränkungen unterworfenen Unternehmern aus der Konkurrenz ausländischer, den gleichen Beschränkungen nicht unterworfener Unternehmer erwächst, durch geeignete Mittel möglichst abgewandt werde.

Daß die Kirche wieder werde das Gewissen der Völker, auch für ihr wirtschaftliches und gesellschaftliches Leben: das ist das höchste Ziel ihrer Inneren Mission. [...]

Registerinformationen

Regionen

  • Bayern, Königreich
  • Frankreich
  • Schweiz
  • Westfalen, Provinz

Orte

  • Berlin
  • Breslau
  • Essen
  • Freiburg i. Br.
  • Gelsenkirchen
  • Iserlohn
  • Liegnitz
  • London
  • Wilkau/Sachsen (Amtshauptmannschaft Zwickau)

Personen

  • Auguste Viktoria (1858–1921) , Ehefrau Wilhelm II.
  • Baare, Louis (1821–1897) , Generaldirektor des Bochumer Vereins für Bergbau und Gußstahlfabrikation
  • Biedermann, August , Metallarbeiter in Dresden
  • Bischof, Ernst (1834–1899) , Lehrer in Gelsenkirchen
  • Bismarck, Otto Fürst von (1815–1898) , Reichskanzler, preußischer Ministerpräsident, preußischer Handelsminister
  • Böhm, Wilhelm , Bauunternehmer in Essen
  • Contzen, Dr. Heinrich (1835–1888) , Professor für Nationalökonomie und gewerbliche Betriebslehre an der Technischen Hochschule in Aachen
  • Deutelmoser, Immanuel (1836–1908) , ev. Pfarrer in Gelsenkirchen
  • Eulenburg, Botho Graf zu (1831–1912) , preußischer Innenminister
  • Fischer, Ludwig (1849– nach 1902) , Bergmann in Gelsenkirchen
  • Friedberg, Dr. Heinrich (1813–1895) , preußischer Justizminister
  • Friedrich Wilhelm (1831–1888) , preußischer Kronprinz; später als Friedrich III. deutscher Kaiser
  • Geffcken, Dr. Heinrich (1830–1896) , ehem. Professor des Völkerrechts und >der Staatswissenschaften in Straßburg
  • Heyl, Wilhelm (1843–1923) , Lederfabrikbesitzer in Worms, MdR (nationalliberal)
  • Hitze, Franz (1851–1921) , Priester, Generalsekretär des katholischen Unternehmerverbands „Arbeiterwohl“ in Mönchengladbach, MdPrAbgH, MdR (Zentrum)
  • Itzenplitz, Heinrich Graf von (1799–1883) , preußischer Handelsminister
  • Kannegießer, Karl Erwin (1834–1898) , Provinzialschulrat in Kassel
  • Krupp, Alfred (1812–1887) , Stahlindustrieller in Essen
  • Martensen, Hans Lassen (1808–1884) , ev. Theologe, Bischof von Seeland (Dänemark)
  • Meyer, Rudolf (1839–1899) , Redakteur in Wien
  • Mez, Karl (1808–1877) , Fabrikbesitzer in Freiburg i. Br.
  • Most, Johann (1846–1906) , Buchbinder, Redakteur, MdR (Sozialdemokrat)
  • Nagel, Lorenz (1827–1895) , Philosoph, Redakteur der „Concordia“ in Berlin
  • Nasse, Dr. Erwin (1829–1890) , Professor für Nationalökonomie in Bonn, , Vorsitzender des Vereins für Sozialpolitik
  • Périn, Charles (1815–1905) , Professor für Wirtschaftswissenschaften an der katholischen Universität in Löwen (Belgien)
  • Quistorp, Johannes (1822–1899) , Fabrikbesitzer in Stettin
  • Roggenbach, Franz Freiherr von (1825–1907), ehem. badischer Politiker, Ratgeber des Kronprinzen Friedrich Wilhelm
  • Rosen, Alfred von (1825–1912) , Regierungspräsident in Arnsberg
  • Sarasin, Karl (1815–1886) , Seidenbandfabrikbesitzer, Ratsherr in Basel
  • Schäffle, Dr. Albert (1831–1903) , Nationalökonom, österreichischer Handelsminister a. D.
  • Scheel, Dr. Hans von (1839–1901) , Professor für Nationalökonomie, Finanzwissenschaft und Statistik in Bern, Direktor des Kaiserlichen Statistischen Amts
  • Schmoller, Dr. Gustav (1838–1917) , Professor für Staatswissenschaften in Berlin
  • Schönberg, Dr. Gustav (1838–1908) , Professor für Nationalökonomie in Tübingen
  • Schuster, Richard (1836–1900) , ev. Pfarrer und Superintendent in Duisburg
  • Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper Graf von (1801–1885), englischer Philanthrop
  • Sopp, Hugo (1855–1892) , ev. Pfarrer in Bochum
  • Stockmar, Ernst Freiherr von (1823–1886) , Privatsekretär der preußischen Kronprinzessin Viktoria
  • Stoecker, Adolf (1835–1909) , Hofprediger in Berlin, MdR (konservativ)
  • Stosch, Albrecht von (1818–1896) , ehem. Chef der kaiserlichen Admiralität
  • Stumm, Karl Ferdinand (1836–1901) , Eisenhüttenwerkbesitzer in Neunkirchen/Saar (Kreis Ottweiler), MdPrHH, MdR (Deutsche Reichspartei)
  • Sybel, Dr. Heinrich von (1817–1895) , Professor für Geschichte, Direktor der Staatsarchive in Berlin
  • Taylor, Jeremy , Arbeiter in Birmingham (England), Initiator und Propagandist von Landkaufgesellschaften
  • Todt, Dr. Rudolf (1839–1887) , ev. Pastor in Barenthin (Kreis Ostprignitz), Mitbegründer der christlich-sozialen Partei
  • Uhlhorn, Dr. Gerhard (1826–1901) , ev. Theologe, Abt von Loccum
  • Wagener, Hermann (1815–1889) , Justizrat und Publizist, Geheimer Ober- , regierungsrat im preußischen Staatsministerium
  • Wagner, Dr. Adolph (1835–1917) , Professor für Staatswissenschaften in Berlin
  • Weaver, Richard (1827–1896) , Prediger in Rochdall (England)
  • Werner, Gustav (1809–1887) , ev. Theologe in Reutlingen
  • Wilhelm I. (1797–1888) , Deutscher Kaiser und König von Preußen
  • Wilhelm H. (1859–1941) , Deutscher Kaiser und König von Preußen

Sachindex

  • Agitation
  • Altersversorgung, siehe auch Gesetz, betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung
  • Arbeiterschutz
  • Arbeiterschutz – internationaler
  • Arbeitervereine, siehe auch Gewerkvereine
  • Arbeiterversicherung, siehe auch Krankenversicherung, Unfallversicherung, Altersversorgung
  • Arbeitgeber
  • Arbeitsvertrag
  • Arbeitszeit
  • Attentat
  • Auswanderung
  • Börse
  • Christentum
  • Einigungsämter
  • Evangelium
  • Fabrik
  • Fabrikarbeiter
  • Familie
  • Frauenarbeit
  • Gefahrenschutz
  • Genossenschaften, siehe auch Berufsgenossenschaften
  • Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie (21.10.1878)
  • Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund (21.6.1869)
  • Großgrundbesitz
  • Handwerk, Handwerker
  • Heirat, Ehe
  • Innere Mission, siehe auch Vereine und Verbände, Zentralausschuß
  • Jugendliche Arbeiter
  • Kirche
  • Kirche – katholische
  • Kohlen
  • Kommunismus
  • Korporationen
  • Landarbeiter
  • Liberalismus, siehe auch Parteien
  • Lohn
  • Luxus
  • Maschinen
  • Mittelstand
  • Nationalökonomie
  • Normalarbeitstag
  • Pariser Kommune
  • Parteien
  • Parteien – Christlich-soziale Partei
  • Parteien – Konservative
  • Parteien – Nationalliberale
  • Parteien – Sozialdemokraten
  • Parteien – Zentrum
  • Presse
  • Presse – Concordia. Zeitschrift für die Arbeiterfrage
  • Presse – Deutsche Evangelische Kirchenzeitung
  • Presse – Evangelischer Arbeiterbote
  • Presse – Neue Evangelische Kirchenzeitung
  • Presse – Reichs- und Preußischer Staatsanzeiger
  • Presse – Der Staats-Socialist
  • Prostitution
  • Reichsregierung
  • Reichstag
  • Revolution
  • Schiedsgerichte
  • Selbsthilfe
  • Sklaverei
  • Sonntagsruhe
  • Soziale Frage
  • Sozialismus, Sozialisten, siehe auch Parteien
  • Sozialreform
  • Sparkassen
  • Stadt, Großstadt
  • Steuern
  • Tagelöhner
  • Thronreden
  • Thronreden – 17.11.1881 (Kaiserliche Sozialbotschaft)
  • Vereine und Verbände
  • Vereine und Verbände – Bergischer Verein für Gemeinwohl
  • Vereine und Verbände – Rheinisch-Westfälischer Provinzialverband evangelischer Arbeitervereine
  • Vereine und Verbände – Verein für christliche Volksbildung in Rheinland und Westfalen
  • Vereine und Verbände – Verein für Sozialpolitik
  • Vereine und Verbände – Zentralausschuß für die Innere Mission
  • Vereine und Verbände – Zentralverein für soziale Reform auf religiöser und konstitutioneller Grundlage
  • Wohlfahrtseinrichtungen, betriebliche
  • Wohnung, siehe auch Hausbesitz
  • Zünfte
  • 1Ludwig Weber (1846─1922), evangelischer Sozialreformer, seit 1881 Pfarrer in Mönchengladbach. Vollständiger Abdruck in der erweiterten Fassung von 1908 bei: Dieter Pauly (Hg.), Ludwig Weber. 1881─1914 Pfarrer der Evangelischen Gemeinde in Mönchengladbach. Mönchengladbach 1986, S. 330─360. »
  • 2Lic. Weber, Die Behandlung der sozialen Frage auf evangelischer Seite. Ein Bitt- und Mahnwort, Halle 1888 (Flugschriften des evangelischen Bundes, 15). »
  • 3Vgl. Die Verhandlungen der kirchlichen October-Versammlung in Berlin vom 10. bis 12. October 1871, Berlin 1872 (Teilabdruck: Bd. 8 der I. Abteilung dieser Quellensammlung). »
  • 4Emil Frommel (1828─1896), seit 1870 Garnisonpfarrer in Berlin, seit 1872 Hofprediger. »
  • 5Bruno Brückner (1824─1905), seit 1869 Propst an der Berliner St. Nikolai-Kirche und seit 1872 zugleich Generalsuperintendent in Berlin. »
  • 6Vgl. den Abdruck der Rede Wicherns über „Die Mitarbeit der Kirche an den sozialen Aufgaben der Gegenwart“, in: Johann Hinrich Wichern, Sämtliche Werke, Bd. III, Teil 2, Berlin u. Hamburg 1969, S. 192─221; vgl. den Teilabdruck in Bd. 8 der I. Abteilung dieser Quellensammlung. »
  • 7Vgl. Protokoll über den zweiten Congreß der sozial-demokratischen Arbeiterpartei, abgehalten zu Dresden am 12., 13., 14. und 15. August 1871, Leipzig 1872, S. 115 f. (Antrag August Biedermann, Gotha, nicht angenommen). »
  • 8Richard Weaver (1827─1896), Prediger. »
  • 9Wichern nennt ─ im Anschluß an Viktor A. Huber, Reisebriefe aus England im Sommer 1854, Bd. 2, Hamburg 1855, S. 450 ─ Jeremy Taylor, einen Birminghamer Arbeiter, der 1847 Initiator und Propagandist von Land(kauf)gesellschaften als Mittel zur Agrarreform war. (Freeholder Land Societies kauften größere Güter auf und zerteilten sie in von einzelnen bewirtschaftbare Parzellen.) »
  • 10Richard Schuster (1836─1900), 1869─1876 Reiseagent für die Südwestdeutsche Konferenz für Innere Mission in Stuttgart, seit 1876 Pfarrer in Duisburg (vgl. über diesen: Hermann Schmidt, Die innere Mission in Württemberg, Hamburg 1879, S. 216 f.). »
  • 11Der Verein für christliche Volksbildung in Rheinland und Westfalen wurde am 8.2.1882 in Bonn gegründet; vgl. Wilhelm vom Endt, Der Verein für christliche Volksbildung in Rheinland und Westfalen. Zum 25jährigen Bestehen, Köln 1907. »
  • 12Ludwig Fischer (1849─nach 1902), Bergmann in Gelsenkirchen, 1882 Mitbegründer des ersten evangelischen Arbeitervereins in Gelsenkirchen, seit 1885 Verbandsagent des Rheinisch-Westfälischen Verbandes der evangelischen Arbeitervereine; vgl. zu diesem: Klaus Tenfelde, Sozialgeschichte der Bergarbeiterschaft an der Ruhr im 19. Jahrhundert, S. 371 f., sowie Günter Brakelmann, Die Anfänge der Evanglischen Arbeitervereinsbewegung in Gelsenkirchen 1882─1890, in: Kurt Düwell/Wolfgang Köllmann (Hg.), Rheinland-Westfalen im Industriezeitalter, Bd. 2: Von der Reichsgründung bis zur Weimarer Republik, S. 40 ff. »
  • 13Gemeint ist die 1878 von Adolf Stoecker gegründete Christlich-soziale Arbeiterpartei, seit 1881 Christlich-soziale Partei; vgl. dazu auch Bd. 8 der I. Abteilung dieser Quellensammlung. Bei seinen Kandidaturen für den Reichstag und das preußische Abgeordnetenhaus trat Wagner (wie Stoecker) für die konservative Partei an. »
  • 14Gemeint sind die Frauen („wilde Weiber“) unter den Aufständischen der Pariser Kommune von 1871, die Kannen mit Petroleum in und an die Häuser gossen und dann anzündeten, so daß Paris bereits brannte, bevor es von den deutschen Truppen erobert wurde. »
  • 15Anthony Ashley Cooper Graf von Shaftesbury (1801─1885), englischer Philanthrop, trat für Reform des Irrenwesens und Arbeiterschutz ein, beteiligte sich an der Londoner Stadtmission, der Church Missionary Society. »
  • 16Vgl. den Abdruck der Rede Adolph Wagners in: Günter Brakelmann und Traugott Jähnichen (Hg.), Die protestantischen Wurzeln der Marktwirtschaft, Gütersloh 1994, S. 59─103; Teilabdruck: Bd. 8 der I. Abteilung dieser Quellensammlung. Vgl. dazu auch: Adolph Wagner und die Kirchliche Oktoberversammlung vom 10. bis 12. Oktober 1871 in Berlin, in: Freiheit gestalten. Zum Demokratieverständnis des deutschen Protestantismus 1789─ 1989, Festschrift für Günter Brakelmann, Göttingen, S. 151─163. »
  • 17Dr. Gerhard Uhlhorn (1826─1901), hannoverscher Theologe, Abt von Loccum. »
  • 18Göttingen 1887 (Abdruck: Gerhard Uhlhorn, Schriften zur Sozialethik und Diakonie, hg. v. Martin Cordes und Hans Otte, Hannover 1990, S. 196─250). »
  • 19Franz Hitze war seit 1880 Generalsekretär des Vereins „Arbeiterwohl“ in Mönchengladbach. Uhlhorn äußert sich hier über die Vorschläge Hitzes zur Hebung des Handwerks, vgl. dazu Franz Hitze, Schutz dem Handwerk, Paderborn 1883. »
  • 20Charles Périn (1815─1905), Professor für Wirtschaftswissenschaften an der katholischen Universität in Löwen (Belgien). Uhlhorn bezieht sich hier auf dessen Publikation: Über den Reichtum in der christlichen Gesellschaft, 2 Bde., Regensburg 1866 u. 1868. »
  • 21Dieser fand am 14. und 15.6.1870 in Bonn statt; vgl. Die Verhandlungen der Bonner Konferenz für die Arbeiterfrage im Juni 1870, hg. vom Sekretär des Ausschusses, Berlin 1870; Teilabdrucke: Nr. 13 Bd. 6 und Bd. 8 der I. Abteilung dieser Quellensammlung. »
  • 22Gemeint ist „Concordia. Zeitschrift für die Arbeiterfrage“, die von 1871 bis 1876 erschien. »
  • 23Lorenz Nagel (1827─1895), Philosoph, Redakteur der „Concordia“ in Berlin, seit 1882 Sekretär der Hamburger Gewerbekammer. »
  • 24Gotha 1880. »
  • 25Anmerkung im Text: Eine in ihrer Art einzige Verbindung von Industrie und Landwirtschaft mit christlicher Bruderliebe repräsentieren Gustav Werners, des Württembergers, Schöpfungen. »
  • 26Anmerkung im Text: Die Sozialdemokratie in ihrem Wesen und in ihrer Agitation. Richtig lautet der Titel: Die Social-Demokratie. Nach ihrem Wesen u. ihrer Agitation quellenmäßig dargestellt von Richard Schuster, Stuttgart 1875. »
  • 27Botho Graf zu Eulenburg (1831─1912), von 1878─1881 preußischer Innenminister. Das Buch „hatte die Ehre, als Quelle für eine Rede des früheren preußischen Ministers Grafen Eulenburg zu dienen, in welchem derselbe aufsehenerregende Mitteilungen über die Tendenzen der Sozialdemokratie machte“ (Hermann Schmidt, Die innere Mission in Württemberg, Hamburg 1879, S. 217). Gemeint ist die Reichstagsrede Eulenburgs vom 27.1.1876, in der dieser von Schuster in seinem Buch gesammelte Zeitungsartikel zitiert (Sten.Ber. RT 2. LP III. Session 1875/1876, S. 941─946). »
  • 28Dr. Heinrich von Sybel (1817─1895), Professor für Geschichte, seit 1875 Direktor der Staatsarchive in Berlin. »
  • 29Bonn 1872. »
  • 30Karl Erwin Kannegießer (1834─1898), Provinzialschulrat in Kassel; die hier genannte Traktatliteratur wurde nicht ermittelt. »
  • 31Dr. Albert Schäffle (1831─1903), Nationalökonom, österreichischer Handelsminister a. D. Anmerkung im Text: Die Quintessenz des Sozialismus; Gotha 1875 (zunächst anonym). »
  • 32Hermann Wagener (1815─1889), Geheimer Oberregierungsrat im preußischen Staatsministerium a. D. »
  • 33Gemeint ist dessen (anonym erschienene) Schrift: Die Lösung der sozialen Frage vom Standpunkte der Wirklichkeit und Praxis. Von einem praktischen Staatsmann, Bielefeld u. Leipzig 1878, S. 89 ff.; zum Berechtigten im Sozialismus vgl. auch den von Hermann Wagener konzipierten Brief Bismarcks an Itzenplitz vom 17.11.1871 (Nr. 85 Bd. 1 der I. Abteilung dieser Quellensammlung). »
  • 34Dr. Gustav Schmoller (1838─1917), seit 1882 Professor für Staatswissenschaften in Berlin. »
  • 35Dr. Erwin Nasse (1829─1890), Professor für Nationalökonomie in Bonn, seit 1874 Vorsitzender des Vereins für Sozialpolitik. »
  • 36Dr. Gustav Schönberg (1838─1908), seit 1873 Professor für Nationalökonomie in Tübingen. »
  • 37Dr. Hans von Scheel (1839─1901), Professor für Nationalökonomie, Finanzwissenschaft und Statistik in Bern, Direktor des Kaiserlichen Statistischen Amtes. »
  • 38Dr. Heinrich Contzen (1835─1888), Professor für Nationalökonomie und gewerbliche Betriebslehre an der Technischen Hochschule Aachen. »
  • 39Vgl. dazu Bd. 8 der I. Abteilung dieser Quellensammlung. »
  • 40Hans Lassen Martensen (1808─1884), evangelischer Theologe, seit 1854 Bischof von Seeland (Dänemark). »
  • 41Die christliche Ethik (3 Bde.), 1871─1878. »
  • 42H. Martensen, Socialismus und Christenthum. Ein Bruchstück aus der speciellen Ethik (deutsche vom Verfasser autorisierte Ausgabe von Al. Michelsen), Gotha 1875. »
  • 43Anspielung auf 1. Mose 3,19. »
  • 44Johannes Quistorp (1822─1899), Fabrikbesitzer in Stettin. »
  • 45Der Kern der Arbeiterfrage. Vortrag, gehalten am 6. März 1872 in der Aula des Johanneums in Hamburg, Stettin 1872. »
  • 46Alfred Krupp (1812─1887), Stahlindustrieller in Essen. »
  • 47Louis Baare (1821─1897), Generaldirektor des Bochumer Vereins für Bergbau und Gußstahlfabrikation. »
  • 48Karl Mez (1808─1877), Fabrikbesitzer in Freiburg i. Br.; vgl. zu diesem: Klaus Vom Orde, Carl Mez. Ein Unternehmer in Industrie, Politik und Kirche, 2. Aufl., Gießen 1994. »
  • 49Wilhelm Heyl (1843─1923), Lederfabrikbesitzer in Worms. »
  • 50Karl Sarasin (1815─1886), Seidenbandfabrikbesitzer, Ratsherr in Basel (Schweiz). »
  • 51Vgl. Ergebnisse einer Erhebung über die in Bayerischen Fabriken und größeren Gewerbebetrieben zum Besten der Arbeiter getroffenen Einrichtungen, veröffentlicht durch das königliche Staatsministerium des Innern, München 1874. »
  • 52Dr. Rudolf Todt (1839─1887), Pastor in Barenthin (Kreis Ostprignitz), Mitbegründer der Christlich-sozialen Partei; vgl. zu diesem: Johannes Kandel, Protestantischer Sozialkonservatismus am Ende des 19. Jh., Bonn 1993, S. 216 f. »
  • 53Wittenberg 1877. »
  • 54Vgl. die Artikelserie „Die Bewegung auf sozialem Gebiet“, in: Neue Evangelische Kirchenzeitung 15 (1873), S. 680 f., S. 699─702, S. 708─711 u. S. 728─731 (Zitat: S. 731). »
  • 55Stoecker gehörte dem Verein nur wenige Wochen an, weitere Gründungsmitglieder waren Adolph Wagner und Rudolf Meyer; vgl. auch Bd. 8 der I. Abteilung dieser Quellensammlung. »
  • 56Der „Staats-Socialist. Wochenschrift für Socialreform“, erschien von 1877─1882, er war Organ des Zentralvereins für soziale Reform und seit 1880 zugleich der Christlich-sozialen Arbeiterpartei. »
  • 57Anmerkungen im Text: Man kann ja gegen Stoeckers Tätigkeit einwenden, daß derselbe als Geistlicher sich zu weit mit der Politik und Agitation eingelassen habe, daß er seine Worte nicht immer auf die Goldwaage gelegt und daß er in der Bekämpfung des Gegners oft das Maß überschritten habe. Aber Stoecker behauptet selbst am allerwenigsten, ein fehl- und irrtumsloser Mensch zu sein. Und trotz der Schwächen, die ihm anhaften mögen, bleibt er jedenfalls ein Mann, den Unzählige im deutschen Volke mit begeisterter Liebe lieben ─ und nicht die schlechtesten. »
  • 58Johann Most (1846─1906), Buchbinder, Redakteur, 1874─1878 MdR (Sozialdemokrat), 1880 aus der sozialdemokratischen Partei ausgeschlossen, übersiedelte 1882 in die USA. »
  • 59Vgl. Nr. 77 Anm. 19. »
  • 60Vgl. die Artikelserie: Die Kirche und das öffentliche Leben, in: Deutsche Evangelische Kirchenzeitung 1 (1887), S. 105 f., S. 113─115, S. 125─127 u. S. 133─135. »
  • 61Die Bibel und die sociale Frage. Vortrag im Evangelischen Arbeiterverein zu Nürnberg am 22. September 1879, gehalten von Adolf Stöcker, 2. Auflage, Nürnberg 1879; Abdruck: Adolf Stoecker, Christlich-Sozial, Bielefeld u. Leipzig 1885, S. 306 ff. »
  • 62Vgl. Anm. 18. »
  • 63Vgl. den Abdruck des Programms in Bd. 8 der I. Abteilung dieser Quellensammlung. »
  • 64Vgl. Nr. 3 Anm. 7. »
  • 65Vgl. hierzu u. a.: A[lfred] Just, Die evangelischen Arbeitervereine, Leipzig 1906; vgl. auch Anm. 12. »
  • 66Ernst Bischof (1834─1899), Lehrer in Gelsenkirchen. »
  • 67Der „Rheinisch-Westfälische Provinzialverband evangelischer Arbeitervereine“ wurde 1885 gegründet. »
  • 68Wilhelm Böhm (sen.), Inhaber eines Baugeschäfts in Essen. »
  • 69Immanuel Deutelmoser (1836─1908), seit 1869 Pfarrer in Gelsenkirchen; vgl. von diesem: Evangelische Arbeitervereine in Rheinland und Westfalen, Magdeburg 1890. »
  • 70Hugo Sopp (1855─1892), seit 1884 Pfarrer in Bochum, zuvor (seit 1881) in Dülken. »
  • 71Der „Evangelische Arbeiterbote“ erschien seit 1886, vgl. zu diesem auch Klaus Tenfelde, Sozialgeschichte der Bergarbeiterschaft an der Ruhr im 19. Jahrhundert. »
  • 72Dieses III. Verbandsfest fand am 24.7.1887 statt, vgl. den Bericht im Evangelischen Arbeiterboten Nr. 31 vom 31.7.1887 und Nr. 32 vom 7.8.1887. »
  • 73Alfred von Rosen (1825─1912), seit 1880 Regierungspräsident in Arnsberg. »
  • 74Prinz Wilhelm hatte durch v. Rosen übermitteln lassen: Die evangelischen Arbeitervereine stützen und schützen den Staat, darum werde er sie auch schützen (Klaus Martin Hofmann, Die Evangelische Arbeitervereinsbewegung 1882─1914, Bochum 1988, S. 41); vgl. den Abdruck der Rede v. Rosens und des Antworttelegramms Wilhelms im „Evangelischen Arbeiterboten“ (vgl. Anm. 72). »
  • 75Gemeint ist die Ansprache des Evangelischen Oberkirchenrats an die Geistlichen und Gemeindekirchenräte der evangelischen Landeskirche, betr. ihre Aufgabe gegenüber den aus der sozialistischen Bewegung entstandenen Gefahren, vom 20.2.1879 (Kirchliches Gesetz- und Verordnungsblatt 1879, Nr. 2). »
  • 76Vgl. Nr. 46. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 78, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.01.00.0078

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