II. Abteilung, Band 1

Nr. 41

1883 November 8

Der Sozialdemokrat1 Nr. 46 [Wilhelm Liebknecht:] Zur Sozialreform des Fürsten Bismarck

Druck

Die Ablehnung der Bismarckschen Sozialreform ist grundlegender Bestandteil sozialdemokratischer Politik

Zur Sozialreform des Fürsten Bismarck hat die deutsche Sozialdemokratie von Anfang an so bestimmt und unzweideutig Stellung genommen, daß wir auf diesen Punkt nicht mehr zurückkommen würden, wenn nicht ein Teil der deutschen Presse es neuerdings förmlich darauf angelegt hätte, den Tatbestand zu verdunkeln und irrige Vorstellungen zu verbreiten.

Auf dem Kopenhagener Kongreß, dem sämtliche sozialdemokratische Abgeordneten mit Ausnahme zweier2 beiwohnten, wurde einstimmig eine Resolution angenommen, dahingehend, daß dem heutigen Klassenstaat weder der Wille noch die [ Druckseite 162 ] Fähigkeit zu einer wirklichen Sozialreform zuzutrauen sei.3 Und als einige Monate später die endgültige Abstimmung über das Krankenkassengesetz, die erste Frucht der Bismarckschen „Sozialreform“, stattfand, stimmten sämtliche sozialdemokratische Abgeordneten gegen das Gesetz und begründeten ihr Votum in einer scharf formulierten Erklärung.4 Bei dieser Abstimmung fehlte nicht ein einziger der sozialdemokratischen Abgeordneten. Jene Erklärung präzisierte den Standpunkt der Partei mit einer Deutlichkeit, die keinem Zweifel einen Raum ließ.

Seit Schluß der Reichstagssession5 haben die meisten sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten die Gelegenheit ergriffen, in Volksversammlungen das Votum der Fraktion gegen das Krankenkassengesetz ausführlich zu motivieren. Nicht einer hat unseres Wissens das Votum zu bemängeln oder auch nur abzuschwächen versucht. Trotzdem will die gegnerische Presse jetzt die Entdeckung gemacht haben, die sozialdemokratischen Abgeordneten seien in Beurteilung des Krankenkassengesetzes nicht einig, ja es sei eine „Spaltung“ unter ihnen ausgebrochen. Sie stützen sich dabei auf eine Äußerung des Abgeordneten Kayser 6, der einem Zeitungsbericht zufolge in Stettin gesagt haben soll, er habe nur ungern gegen das Krankenkassengesetz gestimmt.7 Hat der Abgeordnete Kayser diese Äußerung wirklich getan ─ was keineswegs feststeht ─, so ändert sie doch nichts an der Tatsache, daß der Abgeordnete Kayser gegen das Gesetz gestimmt hat. Ob er dies „gern“ oder „ungern“ getan hat, ist gleichgültig ─ genug, er hat sich dem Fraktionsbeschluß gefügt und die Fraktionserklärung seinerzeit ausdrücklich gebilligt, ehe sie im Reichstag abgegeben ward. In dem persönlichen Wunsch, ein brauchbares Krankenkassengesetz zustande zu bringen, und in dem persönlichen Bedauern, daß dies nicht gelungen ist, kann weder ein Verstoß gegen unser Programm noch ein Widerspruch mit der Gesamthaltung der Fraktion erblickt werden. Die sozialdemokratischen Abgeordneten haben niemals die törichte und unfruchtbare Taktik befolgt, gegen Maßbefolgt, [ Druckseite 163 ] gegen Maßregeln zu stimmen, welche den Interessen der Arbeiter förderlich sind. Im übrigen hat der Abgeordnete Kayser das Krankenkassengesetz in derselben Weise kritisiert, wie es von den andern sozialdemokratischen Abgeordneten kritisiert worden ist, und auch, gleich ihnen, den Arbeitern geraten, durch Eintritt in die freien Hilfskassen der Zwangsjacke der Gemeindeversicherung zu entgehen.

Geradezu lächerlich ist es, wenn die gegnerische Presse in diesem Rat ein „neues Manöver der sozialdemokratischen Partei“ sehen will, die sich nun mit aller Macht auf die freien Hilfskassen zu werfen und diese den Parteizwecken unterzuordnen beschlossen habe. Der Rat ist einfach durch die Verhältnisse geboten, und Herr Max Hirsch hat ihn ebensogut erteilt wie die sozialdemokratischen Abgeordneten es getan ─ bloß mit dem Unterschied, daß Herr Max Hirsch dabei an seine verkrachten Gewerkvereine denkt. Die gewerblichen Hilfskassen können ihrer Natur nach keinTummelplatz der politischen Agitation“ sein. Die Fortschrittler haben die Gewerkvereine ruiniert, weil sie politische Werkzeuge aus ihnen zu machen suchten ─ die Sozialdemokraten werden nicht in den nämlichen Fehler verfallen, und eine auf solche Absichten schließenlassende Äußerung, welche von verschiedenen Blättern Bebel in den Mund gelegt worden ist, hat irgendeinen phantasievollen Reporter zum Urheber, nicht aber Bebel oder einen anderen sozialdemokratischen Abgeordneten.

Kurz, die Reden, welche von den sozialdemokratischen Abgeordneten seit dem Schluß der Reichstagssession gehalten worden sind, weichen in keinem wesentlichen Punkt voneinander ab, und die Taktik, welche im Monat Oktober beobachtet und empfohlen ward, ist genau dieselbe wie die in den Monaten Juni, Juli etc. schon beobachtete und empfohlene.

Nicht glücklicher sind die gegnerischen Blätter, wenn sie glauben, in bezug auf die Sozialreform überhaupt gebe es innerhalb der sozialdemokratischen Fraktion zwei verschiedene Strömungen ─ eine „mehr regierungsfreundliche“ und eine „unversöhnliche“. Den Parteigenossen brauchen wir nicht zu sagen, daß dies eine durchaus willkürliche Annahme ist. Möglich, daß in der sozialdemokratischen Fraktion das eine oder andere Mitglied glaubt, die Reichsregierung könne durch die „Logik der Tatsachen“ und durch das Interesse der Selbsterhaltung zu sozialreformatorischen Maßregeln von wirklichem Wert genötigt werden, allein das sind Privatmeinungen, die auf einer Überschätzung der staatsmännischen Fähigkeiten des Fürsten Bismarck und „seiner Leute“ beruhen und die Probe der Praxis nicht zu bestehen haben werden. Sozialreformatorische Maßregeln von wirklichem Wert ─ und wir haben wiederholt gezeigt, daß wirkliche Sozialreform dem Inhalt und Ziel nach identisch ist mit Sozialrevolution ─ werden die traurigen Kurpfuscher, die heute in „Sozialreform“ schwindeln, ihr Lebtag nicht zustande bringen ─ und sollte ihnen das Messer noch so nahe an der Kehle sein.

Die Schundware, die aus der Bismarckschen Sozialreformfabrik hervorgeht, kann keinem sozialdemokratischen Abgeordneten als eine wirkliche Sozialreform erscheinen. Ein von Sozialdemokraten gewählter Abgeordneter, der sich in das Narrenparadies Bismarckscher Sozialreform verirren sollte, würde im selben Augenblick aufhören, sozialdemokratischer Abgeordneter und Mitglied der sozialdemokratischen Fraktion zu sein.

[ Druckseite 164 ]

Registerinformationen

Orte

  • Stettin

Personen

  • Bebel, August (1840–1913) , Drechslermeister in Borsdorf (Amtshauptmannschaft Grimma), MdR, sozialdemokratischer Parteiführer
  • Dietz, Johann Heinrich Wilhelm (1843–1922) , Verlagsbuchhändler in Stuttgart, MdR (Sozialdemokrat)
  • Droß, Dr. Werner (1847–1926) , ev. Pfarrer in Berlin
  • Dryander, Ernst (1843–1922) , ev. Pfarrer in Berlin, Superintendent der Synode Friedrichswerder
  • Hirsch, Dr. Max (1832–1905) , Schriftsteller in Berlin, liberaler Gewerkschaftsführer, MdR (Fortschritt)
  • Kayser, Max (1853–1888) , Redakteur in Dresden, MdR (Sozialdemokrat)
  • Lohmann, Theodor (1831–1905) , Geheimer Oberregierungsrat im Reichsamt des Innern
  • Meyeren, Wilhelm von (1835–1909) , Oberverwaltungsgerichtsrat in Berlin, , Vizepräsident des Zentralausschusses der Inneren Mission
  • Oldenberg, Friedrich Salomo (1829–1894) , Vereinsgeistlicher und geschäftsführender Sekretär des Zentralausschusses der Inneren Mission
  • Stoecker, Adolf (1835–1909) , Hofprediger in Berlin, MdR (konservativ)
  • Weiß, Dr. Bernhard (1827–1918) , Professor in Berlin, Oberkonsistorialrat im preußischen Kultusministerium, Präsident des Zentralausschusses der Inneren Mission
  • Wichern, Johann Hinrich (1808–1881) , ev. Theologe in Hamburg, Begründer der Inneren Mission

Sachindex

  • Agitation
  • Christentum
  • Fabrik(kranken)kassen
  • Gemeindekrankenkassen
  • Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie (21.10.1878)
  • Gewerkvereine
  • Innere Mission, siehe auch Vereine und Verbände, Zentralausschuß
  • Kirche
  • Kirche – evangelische, siehe auch Innere Mission
  • Landarbeiter
  • Parteien
  • Parteien – Fortschritt, Freisinn
  • Polizei
  • Presse
  • Presse – Der Gewerkverein
  • Presse – Neue Stettiner Zeitung
  • Reichsregierung
  • Revolution
  • Vereine und Verbände
  • Vereine und Verbände – Zentralausschuß für die Innere Mission
  • Versicherungszwang
  • 1Der Artikel ist mit ml gekennzeichnet, dem Kürzel für „miles“, d. i. Wilhelm Liebknecht nach dessen Selbstbezeichnung als „Soldat der Revolution“ im Leipziger Hochverratsprozeß von 1872. »
  • 2Nicht anwesend waren die Reichstagsabgeordneten Moritz Rittinghausen und Karl Wilhelm Stolle. »
  • 3Vgl. Nr. 34. »
  • 4Der Abgeordnete Johann Heinrich Wilhelm Dietz hatte am 31.5.1883 vor der Schlußabstimmung erklärt: Das Gesetz, betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter, entspricht als Ganzes und in seinen Teilen durchaus nicht den Anforderungen, welche die Arbeiterklasse an ein solches Gesetz zu stellen berechtigt ist. Nach vielen Richtungen hin bedeutet es sogar eine Verschlechterung des gegenwärtigen Zustands. Die Beschränkung des Gesetzes auf Lohnarbeiter, wodurch ihm der Stempel eines Klassen- und Ausnahmegesetzes aufgedrückt wird; insbesondere die auf das Drängen der Reichsregierung erfolgte Ausschließung der ländlichen Arbeiter, deren Gleichstellung mit den Industriearbeitern ein einfaches Gebot der Gerechtigkeit ist, die Beibehaltung der Fabrikkassen, die ihrer Natur nach ein Mittel der Unterdrückung in den Händen der Kapitalisten sind; die prekäre Stellung, in welche die bestehenden freien Kassen der Arbeiter gebracht werden; die Beschränkung des Verfügungsrechtes der Kassenmitglieder über das Kassenvermögen; endlich der polizeilich bürokratische Gesamtcharakter des Gesetzes, dessen Verbesserung durch eine Reihe organischer Anträge wir vergeblich erstrebt haben, machen es unmöglich, in dem Gesetz betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter eine für die Arbeiterklasse heilsame Maßregel oder gar die Anbahnung einer ernsthaften Sozialreform zu erblicken (Sten.Ber. RT 5. LP II. Session 1882/1883, S. 2691). »
  • 5Die zweite Session der 5. Legislaturperiode endete am 12.6.1883, vom 29.8. bis 1.9.1883 war der Reichstag zu einer außerordentlichen dritten Session einberufen worden. »
  • 6Max Kayser (1853─1888), Redakteur in Dresden, seit 1878 MdR (Sozialdemokrat). »
  • 7Dies berichtete der „Gewerkverein“ am 26.10.1883 unter Berufung auf einen Bericht der „Neuen Stettiner Zeitung“. »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 41, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.01.00.0041

Nachnutzung: Digitale Quellensammlung und Forschungsdaten stehen unter einer Creative Commons Attribution 4.0 International (CC-BY 4.0) Lizenz. Weiterverwendung unter Namensnennung und Angabe des Permalinks.