II. Abteilung, Band 1

Nr. 4

1881 November 9

Brief1 des Legationsrats Herbert Graf von Bismarck2 an seinen Schwager Kuno Graf zu Rantzau3

Eigenhändige Ausfertigung

Bismarck muß den Bosse-Boetticher-Entwurf der Thronrede redigieren, er befürwortet Wahlarrangement mit Berliner Sozialdemokraten

Danke bestens für Deinen Brief. Den „Post“-Artikel4 habe ich gelesen; ist er aber von der Redaktion nicht etwas gekürzt? Die Redigierung ging hier so schnell vor sich, daß ich mich nicht mehr darauf besinnen kann, ob etwas fehlt, es kommt mir nur vor, als wäre mein Brei länger gewesen.

Die Hasenclever5-Mitteilung6 finde ich interessant und erfreulich; Papa, dem ich Deinen Brief zu lesen gab, teilt diese Ansicht und meinte, Luckhardt7 würde den Sinn Deiner ausweichenden Antwort schon verstanden haben, sonst müßte er von einem fürchterlich schweren Begriffsvermögen sein. Es wäre ganz ausgezeichnet, wenn das Arrangement so zustande käme; wenn es wirklich gelingt, müßte A[dolph] Wagner8 in Hasenclevers Berliner Wahlkreis aufgestellt werden, denn der ist im Reichstag von allergrößter Wichtigkeit und von weit schwerwiegender[er] Bedeutung als sämtliche übrigen Antifortschrittskandidaten zusammengenommen.9 Lasse nur durch Krüger10 Madai11 noch einmal erinnern, daß den Sozialisten bei den weiteren Wahlen keine Schwierigkeiten gemacht werden.

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Die sonstigen Stichwahlen sind ja alle niederträchtig, die Konservativen werden wohl gar nichts mehr darin gewinnen!

Papa sitzt seit 1 {1/2} Stunden fürchterlich schimpfend über der Thronrede: Er hat mich wegen kleiner Rückfragen einigemal rufen lassen und war immer erbitterter über „das lederne Phrasengeklingel, den vollständigen Mangel an Logik und die Weglassung aller Hauptpunkte“12. Nun quält er sich voll Ärger mit einer neuen Redaktion, was mir um so mehr leid tut, als er natürlich eine schlechte Nacht darauf haben wird, wie nach jeder Abendarbeit. Jetzt ist es 10 Uhr, und er behauptet, er müßte noch lange arbeiten!

Registerinformationen

Personen

  • Bismarck, Wilhelm Graf von (1852–1901) , Sohn und Mitarbeiter Otto von Bismarcks, Regierungsrat in der Reichskanzlei, MdPrAbgH (freikonservativ)
  • Madai, Guido von (1810–1892) , Polizeipräsident von Berlin
  • Rottenburg, Dr. Franz von (1845–1907) , Chef der Reichskanzlei

Sachindex

  • Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie (21.10.1878)
  • Repression
  • Thronreden
  • 1Bismarck-Archiv Friedrichsruh, D 25, fol. 288─289 Rs. »
  • 2Herbert Graf von Bismarck (1849─1904), seit 1881 Legationsrat im Auswärtigen Amt, Sohn und Mitarbeiter Otto v. Bismarcks, »
  • 3Kuno Graf zu Rantzau (1843─1917), seit 1878 Legationsrat im Auswärtigen Amt, Schwiegersohn Otto v. Bismarcks. »
  • 4Gemeint ist die lancierte Rücktrittsdrohung in der „Post“ vom 9.11.1881, Nr. 308, vgl. Nr. 15 Anm. 3, vgl. auch: Oswald Schneider, Bismarcks Finanz- und Wirtschaftspolitik, München u. Leipzig 1912 (Staats- u. Sozialwissenschaftliche Forschungen, 166), S. 210 ff. »
  • 5Wilhelm Hasenclever (1837─1889), Lohgerber, Journalist in Berlin, seit 1879 (wieder) MdR (Sozialdemokrat). Hasenclever kandidierte in 13 Wahlkreisen, u. a. Berlin 6, Potsdam 8 und Frankfurt/Oder 4, gewählt wurde er im Wahlkreis 6 Berlin, äußere Stadt Nord. »
  • 6Vgl. zu diesem mit der Partei- bzw. Fraktionsleitung der Sozialdemokratischen Partei wohl nicht abgesprochenen Angebot von Hasenclever zu einem Wahlbündnis mit den Konservativen gegen den Fortschritt bei der anstehenden Stichwahl: Nr. 215 Anm. 3 Bd. 1 der I. Abteilung dieser Quellensammlung und Nr. 21 dieses Bandes. »
  • 7Friedrich Luckhardt (1847─1905), Verleger des konservativen „Deutschen Tageblatts“ in Berlin. »
  • 8Dr. Adolph Wagner (1835─1917), seit 1870 Professor für Staatswissenschaften in Berlin, 1872 Mitbegründer des Vereins für Sozialpolitik. »
  • 9Vgl. zur Rolle des Kathedersozialisten Adolph Wagner als Propagandist Bismarckscher Gedanken Nr. 188 und Nr. 189 Bd. 1 der I. Abteilung dieser Quellensammlung; das versuchte Wahlbündnis lief allerdings darauf hinaus, daß die konservativen Wähler im 4. und 6. Berliner Wahlkreis für sozialdemokratische Kandidaten stimmen sollten. »
  • 10Hermann Krüger (1836─1902), Kriminalkommissar in Berlin. »
  • 11Guido von Madai (1810─1892), seit 1872 Polizeipräsident von Berlin. »
  • 12Bosse seinerseits schrieb rückblickend, daß er erfreut war, wenn es ihm gelang, in die Reichstagsthronreden einen etwas wärmeren Ton zu bringen, als ihn die etwas langatmigen und trockenen preußischen Thronreden zu zeigen pflegten („Zehn Jahre im Reichsamt des Innern“, GStA Berlin VI. HA NL Bosse [M] Nr. 1, fol. 11). »

Zitierhinweis

Abteilung II, 1. Band, Nr. 4, in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, 1. Band: Grundfragen der Sozialpolitik. Die Diskussion der Arbeiterfrage auf Regierungsseite und in der Öffentlichkeit, bearbeitet von Wolfgang Ayass, Florian Tennstedt und Heidi Winter. Digitale Version unter Mitarbeit von Hans-Werner Bartz, Anna Neovesky und Torsten Schrade.

Permalink: https://quellen-sozialpolitik-kaiserreich.de/id/q.02.01.00.0004

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